SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Die Favoritin

DIE FAVORITIN von Matthias Lehmann ist eine Graphic Novel aus dem Hause Carlsen. Warum ich darauf aufmerksam wurde, was mich daran reizte und warum ich es las, darauf möchte ich nicht näher eingehen. Denn die Beschreibung bei Amazon verrät für meinen Geschmack eigentlich schon zu viel. Ich finde es schön, wenn meine Leser hier im Blog sich überraschen lassen. Wer möchte, darf aber am Ende gerne den Spoiler lesen, wo ich eines der Hauptthemen näher beleuchte ;-)




Frankreich um 1970: Constanze lebt bei den Großeltern. Die Oma ist tyrannisch, die Regeln für Constanze sind sehr streng, und die Bestrafungen sind sehr hart. Das Kind lebt in ständiger Angst und nutzt jede Möglichkeit zur Flucht, sei es in den Garten oder in eigene Fantasiewelten. Der Großvater wagt sich nicht gegen seine Frau zur Wehr zu setzen, er ist dem Alkohol verfallen und hört tageintagaus die Musik von Mahler, während er sich im Weltschmerz ergeht. Constanze ist auf sich alleine gestellt.

In einzelnen Episoden erfährt der Leser schrittweise immer mehr über die Hintergründe. Was bereits zu Beginn tragisch wirkt, steigert sich immer mehr, bis das menschliche Elend hinter der schicken Fassade der Familie kaum noch zu ertragen ist. Neben Rückblenden und einzelnen Episoden gibt es auch eine voranschreitende Handlung: Die Großmutter stellt einen neuen Mitarbeiter ein, der mit seiner Familie Leben auf das Anwesen bringt. Constanze trifft erstmals gleichaltrige Kinder, bekommt die Möglichkeit des direkten Vergleichs, entdeckt sich selbst, den eigenen Körper, verliebt sich, beginnt Fragen zu stellen ... 

Schon als ich das Werk in der Hand hielt, war ich begeistert: es handelt sich um ein Papp-Hardcover mit angenehm griffiger Haptik. Kein Glanz, keine Folierung wie bei anderen modernen Büchern. Es wirkt recht edel und macht sich hervorragend im Regal, auch beim Lesen liegt es wunderbar in der Hand (normalerweise gehe ich bei Büchern nicht auf Cover und Haptik ein, in diesem Fall aber finde es ich doch erwähnenswert, da die Aufmachung sehr gut zum Inhalt passt und diesen unterstreicht). 

Die Bilder sind im Stil alter Holzschnitte gearbeitet, wirken manchmal etwas steif und durch die sehr kräftigen Tusche-Striche recht düster. Das ist ein Stilmittel, welches bereits beim Überfliegen sofort ins Auge sticht und sehr beklemmend wirkt, das schwermütige und grausame Leben der Familie unterstreicht. Es gibt nur Schwarz und Weiß, Schattierungen und Grautöne entstehen lediglich durch das dichtere / weitere Schraffierung oder durch dickere / dünnere Strichführung. 

Der Zeichner passt die Art der Panels an den jeweiligen Inhalt an: es gibt einzelne Bilder ohne Umrandung unsortiert auf der Seite verteilt, manchmal sind die Zeichnungen akkurat und quadratisch nebeneinander umrahmt. Manchmal kommt er seitenweise fast ohne Text aus, dann wieder folgt eine Flut an Sprechblasen und Infofeldern. Auf einer Seite gibt es sogar ein Bild, bei dem drei Bilder zu einem gefügt wurden und von unten nach oben zu lesen sind. Einzelne Grafiken erfordern sogar eine ganze Seite für sich alleine, ein paar wenige erstrecken sich sogar über eine komplette Doppelseite. Auch arbeitet Lehmann sehr stark mit unterschiedlichen Fokussen, sodass manche Szenen mit weitem Abstand betrachtet werden, in anderen Momenten kommen Gesichter und Szenerie so nah, dass es regelrecht unangenehm ist (was jeweils beabsichtigt ist). Dadurch, dass es immer wieder anders ist, kommt man nicht in einen routinierten Fluss sondern muss jedes Bild, jede Seite einzeln betrachten, sich jedes Mal neu auf die Darstellung einlassen.

Die Bilder wirken umso intensiver, da man sich mit ihnen befasst statt sie nur zu überfliegen. Und in diesen Bildern wird sehr viel transportiert. Bereits auf der zweiten Seite stellt sich eine Gänsehaut ein, wenn man die Gesichter der hässlichen, kaputten Porzellanpuppen betrachtet, darunter die Peitsche. Gerade die Gesichter und Augen drücken, obwohl sie so schlicht gehalten sind, sehr intensiv Emotionen aus, vermitteln oft einen Schauer beim Lesen. Es gelingt Lehmann, alles einzufangen, was hier präsentiert wird: die dunkle Seite des Menschen. Gier, Wollust, Sadismus, Wahnsinn, Angst, Panik, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Wut, Hass, aber auch kleine Momente der Freude, der Leichtigkeit, der Ausgelassenheit. 

Manchmal sind am rechten oder oberen Buchschnitt die Texte abgeschnitten. Falls es ein Stilmittel ist, kann ich es nicht erkennen. Es wirkt eher, als hätte man beim Bearbeiten die Bilder nicht auf die Seitengröße angepasst und etwas verrutscht, das ist schade. Allerdings war das nur auf sehr wenigen Seiten, und es steht auch kein wichtiger Text an dieser Stelle, sodass man darüber gut hinwegsehen kann. 

Die Episoden, die Bilder, die Handlung sind wie bereits gesagt sehr düster und beklemmend. Je mehr man über Constanze und ihre Großeltern erfährt, desto größer wird die Erkenntnis, welches Drama sich damals abgespielt haben muss und wie sehr alle Beteiligten unter der aktuellen Situation leiden. Alles ist zutiefst menschlich, nachvollziehbar, oft nur eine Verkettung höchst tragischer Umstände, und doch so bitterböse, so grausam. Selbst aus einer kindlichen Romanze entsteht eine Tragödie, selbst ein im Sterben liegender Mensch kitzelt in allen anderen nur die tiefsten Gefühle der Abneigung und des Hasses hervor. Man wird konfrontiert mit psyschischer Krankheit, schwarzer Pädagogik, Kindsmissbrauch, Alkoholismus, Entführung, kindlichem Sadismus, Kindstod, häuslicher Gewalt und anderen Dingen, die den Leser in ihrer gnadenlosen Direktheit auf vielfache Weise verstören.

Und trotz all dieser Dunkelheit - immer wieder muss man schmunzeln. Es ist weitgehend aus Constanzes Sicht gezeigt, und ein Kind dieses Alters versteht vieles noch nicht. Es interpretiert Dinge falsch, versteht nicht, was die Erwachsenen sagen. So geschieht es etwa, dass ein großes Geheimnis aufgedeckt wird, doch Constanze meint nur "uninteressant", während der Leser mit offenen Mund vor dem Buch sitzt und wieder ein Stückchen der Geschichte begreift. Durch die Augen Constanzes wirkt alles erträglicher, denn das Kind kennt es nicht anders, hat gelernt sich zu arrangieren, ja sogar kleine Momente von Glückseligkeit in dieser Hölle zu erleben, und der Leser kann den Inhalt auf diese Weise besser ertragen.

Lehmann bezieht sich in DIE FAVORITIN immer wieder auf klassische Musik, bekannte Gedichte, moderne und klassische Literatur, bringt auch Anspielungen auf bekannte Gemälde. So trifft man unter anderem auf Goethe, den Malteser Falken, Spitzweg, Ari Scheffer, die Pif-Comics, Edvard Munch und viele andere. Auch ohne diese Anspielungen zu verstehen (ich vermute, auch mir sind einige entgangen) liest sich die Novel sehr gut, doch natürlich sind diese kleinen Aha-Momente ein besonderer Genuss. 

Puh, wie kann man all diese Eindrücke nun zusammenfassend beschreiben? DIE FAVORITIN ist ein Werk, das den Leser in seiner Intensität tief berührt. Man muss sich vorab wappnen, abzutauchen in die Dunkelheit der menschlichen Seele. Verstörende Wendungen, unangenehme Begegnungen und tragische Ereignisse ziehen sich von der ersten zur letzten Seite. 

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SPOILER

Constanze ist ein Junge, wird jedoch von den Großeltern als Mädchen gekleidet und erzogen. Die Identitätsfindung ist ein Teil des Werkes, etwa wenn das Kind sich ärgert, von den Menschen in der Stadt als "junges Fräulein" angeredet zu werden. Es kommt zu Verwirrungen in der Liebe und zum Außenseiterdasein, als andere Kinder davon erfahren. Es handelt sich nicht um Crossdressing, kindliches Spiel, Intersexualität oder Transidentität, sondern um egoistischen Motive der Großeltern (auf die später in Rückblicken näher eingegangen wird). Warum lebt das Kind auf diesem Anwesen, warum wird es als Mädchen erzogen, warum kennt es nicht einmal seinen wahren männlichen Namen, wer sind die wahren Eltern? 

SaschaSalamander 11.11.2016, 09.43

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