SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Max und Mary

In mir ist Aufruhr, und ich weiß nicht, wie ich diesen Film beschreiben und wo ich in meiner Rezension anfangen soll. Spontan denke ich an "Die Elenden" (Buch von Hugo), "Hinter dem Horizont" (Drama mit Robin Williams" und "Barfuss durch Hiroshima" (Biographie-Manga von Keji Nakazawa), die für mich zu den absoluten Highlights gehören, wie es nur ganz wenige gibt. Aber ich versuche es jetzt einfach mal der Reihe nach. Ich war im Kino, und dort sah ich einen Film: "Max und Mary - schrumpfen Schafe, wenn es regnet?"

Mary-Daisy Dinkle ist 8 Jahre und lebt in Australien. Ihr Leben ist recht traurig, denn ihre Mutter ist alkoholsüchtig und stiehlt, ihr Vater arbeitet den ganzen Tag in der Fabrik (Fäden an Teebeutel heften) und stopft nach der Arbeit tote Tiere aus, in der Schule wird sie ausgelacht, sie findet sich hässlich wegen ihres kackfarbenen (O-Ton) Muttermales. Sie wäre so gerne hübsch, würde so gerne geliebt werden. Eigentlich war sie nur ein Unfall, erzählt ihre Mutter ihr.

Max Jerry Horowitz ist jüdisch-atheistischer Mittvierziger, lebt in New York, besucht regelmässig eine Selbsthilfegruppe wegen seiner Adipositas, und er versteht Menschen einfach nicht. Er ist Asperger-Autist, zeigt zwanghaftes Verhalten und kann sich nicht in der Welt um ihn herum zurechtfinden.

Durch Zufall gelangt Mary in einem Telefonbuch an seine Adresse. Sie wünscht sich sehnlichst einen Freund, und so entschließt sie sich spontan, einfach jemandem zu schreiben. Ganz offen erzählt sie ihm von sich und ihrem Alltag, auf kindlich-naive Weise, liebenswert und zutiefst melancholisch. Max ist überrascht, "confuzzled" (confused und puzzled), dieser unerwartete Brief bringt ihn aus dem Rhythmus, doch nachdem er sich wieder gefangen hat, antwortet er ihr ebenso offen und freundlich. Bald verbindet die beiden eine innige Freundschaft, die auch durch längere Pausen (etwa als Max für acht Monate in eine psychiatrische Klinik muss, nachdem ein Brief von Mary ihn sosehr getriggert hatte) nicht abbricht. Viele Schicksalsschläge müssen sie erleiden, auch viele schöne Momente gibt es, und das Leben geht weiter. Trauer, Tod, Heirat, Studium, Lottoweginn, weitere Tode, Psychotherapie, Operation, eine Unzahl an Ereignissen, welche die kleine Welt der beiden erschüttert, bis Mary sich eines Tages endlich aufmacht, um Max gegenüberzustehen ...

Es ist ein Animationsfilm aus Knetfiguren, wie man es von "Wallace and Gromit" kennt. Auch ist es eine Liebesgeschichte, die aufgrund des Altersunterschieds und der skurillen Charaktere an "Harold and Maude" erinnert. Und doch ist es etwas komplett Neues und Eigenes, was der Regisseur Adam Elliot erschaffen hat. Er hat ein Meisterwerk geboren, wie es viel zu schade ist, um sosehr vor sich hinzudümpeln. Leider vermute ich, dass der Film kaum Anhänger finden wird, auch im Kino geht er derzeit eher unter. Dabei hätte er großen Ruhm verdient!

Zwar mag es ein Animationsfilm sein, wobei man eher an Kinder denkt. Freigegeben ist er ab 12, das mag von der Story her auch machbar sein. Aufgrund seines Inhaltes, seiner Tragweite und Tragik ist er jedoch ein reiner Erwachsenenfilm, mit dem Kinder wohl auch kaum etwas anfangen könnten. Es werden Themen behandelt wie Depression, Selbsthass, Suizidgedanken, Autismus, Alkoholismus, Zwangsstörungen. Und zwar auf eine Weise, die an die Substanz geht. Es wird nichts erklärt, sondern die Figuren agieren, und allein ihre simplen Handlungen und die anfangs noch naiven Gedanken des kleinen Mädchens, das bald zu einer jungen Frau heranreift, berühren den Zuschauer sehr. Man hört den von ihr gelesenen Brieftext, in welchem sie von einer Szene erzählt, als sie im Schulhof gemobbt wurde. Dazu sieht man die entsprechenden animierten Bilder, wie der Junge ihr Brot stiehlt, sie auslacht etc. So hilflos, verlassen und wehrlos sitzt sie auf ihrer Bank, dass spätenstens an dieser Stelle die ersten Tränen fließen, von denen im Laufe des Filmes noch viele weitere folgen werden, für die Charaktere ebenso wie für den Zuschauer.

Es gibt unzählige Momente, die tief im Herzen berühren. Etwa Marys Reaktion, als Max erzählt, dass er nicht weinen kann. Maxens unsichtbarer Freund Ravioli, welcher lesend in der Ecke sitzt, seit der Psychiater Max erklärte, dass er keinen unsichtbaren Freund mehr benötigt. Die Wäscheklammern anstatt der Knöpfe. Die Reaktion des Nachbarjungen, nachdem Mary von ihrer Operation zurückkehrt. Kleine Momente, grandios in Szene gesetzt und unendlich ergreifend. Oft nur Nebensätze, manchmal nur wenige Sekunden, und jedes Bild des Filmes exakt herausgearbeitet, als wäre es die Kernszene, nichts was verblasst oder vor anderen Szenen zurückstecken müsste. Es ist eine Ansammlung von Höhepunkten in einem Film ohne jegliche Action und Hektik.

Auch muss man ganz besonders auf die Details achten. Es ist im Grunde sogar besser, den Film mehrfach zu sehen, weil einfach zuviele Kleinigkeiten verloren gehen, wenn man sich das erste Mal auf Text, Inhalt und Vordergrund konzentriert. So etwa der Bettler vor Maxens Haus, der regelmässig neue Schilder vor sich aufstellt, so etwa "Umarmungen" für ein paar Cent. So traurig, und doch nur eine Randerscheinung, erzählt er zwischendurch seine ganz eigene Geschichte. Oder der kleine Nachbarsjunge, welcher stottert. Der Nachbar, welcher Angst hat aus dem Haus zu gehen. Die freundliche Haushaltshilfe, die zwar schlecht sieht aber trotzdem meistens alles zur Zufriedenheit erledigt. Bilder an der Wand, die ihre eigene Geschichte erzählen, Menschen auf der Straße. So viel, was dieser Film zu sagen hat, ...

Dazwischen einige Situationen, in denen man lachen könnte. Manchmal gelingt es, manchmal bleibt das Lachen im Hals stecken. Die Situationen sind stark überspitzt, und alleine das macht den Film an manchen Stellen erträglich, das Lachen fast schon gezwungen, um sich selbst ein wenig aufzulockern. Elliot hat sehr schöne Möglichkeiten gewählt, die Texte mit Bildern zu untermalen, und gerade, weil die Knetfiguren so unrealistisch und teils sogar hässlich aussehen, wirkt alles umso sympathischer. Ich glaube, als Spielfilm wäre "Max und Mary" kaum umzusetzen, es würde entweder zu albern werden (da die pointierte Komik mit Menschen anders umgesetzt werden müsste und man sie nicht extrem überzeichnen kann) oder aber zu tragisch (wenn man den Humor entschärft). Mit der Technik des Stop-Motion wurde die einzige Möglichkeit der Verfilmung angewendet, die ich mir für diesen Inhalt vorstellen kann. Während Animationen meist zu glatt sind, sind Knetfiguren unperfekt, und das sind auch die Charaktere, und das ist auch ein Fazit des Filmes: "ich verzeihe Dir, denn Du bist unperfekt. Du bist ein Mensch, und Menschen sind nicht perfekt. Auch ich bin nicht perfekt". Eine so simple Wahrheit, und doch so schwer zu ertragen ...

Die Bilder sind sepiafarben gehalten bei Mary (denn ihre Lieblingsfarbe ist braun), schwarzweiß bei Max (so sieht er die Welt). Dazwischen einzelne Farbkleckse, die besondere Erlebnisse hervorheben sollen. Es gibt nur fünf  Sprecher, die sich je nach Situation abwechseln: die junge Mary (sie liest die Briefe vor), die erwachsene Mary (Briefe), Max (Briefe), Damian (ein Brief und, wenn ich mich recht entsinne, sehr wenige Sätze?) sowie der Erzähler, welcher den Hauptteil der Geschichte trägt. Sie nehmen sich in ihrer Persönlichkeit sehr stark zurück und lassen die simplen Worte für sich wirken, was sie an manchen Stellen umso dramatischer wirken lässt. Sie lesen die Worte, und der Zuschauer muss sie verarbeiten. Untermalt von wundervoller Musik, die niemals stört sondern perfekt passt, indem sie dramatische Momente manchmal hervorhebt, manchmal besonders tragische Szenen mit leichter Musik erträglicher macht (oder umso schlimmer wirken lässt, denn gerade die kindliche Unschuld lässt einen schweren Schicksalsschlag umso grausamer erscheinen).

Ich kann für mich persönlich ohne Umschweife sagen, dass es von allen Animationsfilmen, die ich je gesehen habe, der für mich in dieser Art bisher beste war! Klar kann man nicht alles miteinander vergleichen, aber etwas wie "Max und Mary" gibt es nur sehr selten. Müsste ich ihn einem Genre zuordnen, würde ich sagen "Tragikomödie", aber das trifft nur einen geringen Teil. Ich denke, es ist auch egal. Es ist eben doch nicht alles schwarz-weiß, und die Dinge sind unperfekter und komplizierter, als es uns manchmal recht ist.

Ohne Zweifel kann ich "Max und Mary" jedem empfehlen, der fernab vom Mainstream bereit ist, einen Film zu sehen, der zu Herzen geht ohne rührig zu sein, und der ohne Action einfach nur eine Geschichte erzählt, die ... ja, was eigentlich? Nein, es braucht keinen Grund. Es wird einfach eine Geschichte erzählt. Wer bereit ist, sich einfach nur auf die Geschichte dieser beiden Menschen einzulassen, der wird mit einem Filmjuwel belohnt, wie es nur selten zu finden ist.


SaschaSalamander 20.09.2010, 10.14

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Tina

Danke für den Tipp, haben den Film gerade gesehen und ich bin noch etwas durch den Wind. Wow, mit Sicherheit einer der besten Filme, die ich je gesehen habe.

vom 21.09.2010, 02.25
Antwort von SaschaSalamander:

Sorry, hab den Kommentar erst jetzt entdeckt *rotwerd*

schön, wenn er Dir gefallen hat :-)
Ich fand ihn wirklich etwas ganz, ganz besonderes ...

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