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Ausgewählter Beitrag
Milliarden-Mike
AUTOREN
Mike Wappler ist inzwischen 57. Er ist Betrüger und
Hochstapler, und kein kleiner: rund 20 Jahre seines Lebens hat er hinter
Gittern verbracht, unter anderem in der berühmten JVA Fuhlsbüttel (Santa Fu).
Angedacht war ursprünglich eine Sicherheitsverwahrung, doch kurz zuvor
entzog er sich durch Flucht, gerade während der Diskussionen um Neuregelung der SV. Er kann zwar nicht lesen oder schreiben,
doch bereits als Kind bekam er Einblick in das Milieu, lernte andere
Menschen mit Worten und Lügen (die er selbst als "Geschichtenerzählen"
bezeichnet) zu betrügen (er würde sagen "Maß nehmen").
Der Journalist Tim Gutke hat mit ihm nun das Buch
MILLIARDEN-MIKE veröffentlicht, in dem er seine Geschichte erzählt. Und
es haben sich wohl zwei gefunden, die prima zusammenarbeiten:
hier hat man das Gefühl, dass der Journalist die Worte des
Betrügers gekonnt umgesetzt hat, sie perfekt in Szene setzte (denn was
nützt die spannendste Geschichte, wenn der Schreiber sie nicht
umzusetzen vermag). Der Schreibstil Gutkes und die Erzählungen Wapplers -
eine kongeniale Mischung, die den Leser anspricht und sofort wirkt.
AUFBAU
Das Buch beginnt mit der
Beschreibung von Wapplers Flucht während seines Freigangs. Danach wird
seine Geschichte chronologisch von Beginn an erzählt, vom kleinen Bub
hin zum heutigen Lebemann mit Porsche, Villa, Rolex, Designerklamotten
und einem dicken Bündel Banknoten in der Hosentasche. Dazwischen werden
immer wieder einzelne Absätze eingeschoben (optisch gut vom restlichen
Text abgegrenzt, sodass man sie auch zwischendurch überfliegen kann).
Der frühere Familienanwält, seine aktuelle Anwältin, seine
Halbschwester, ein damaliger Weggefährte, sogar "Schneekönig" Ronald
Blacky Miehling kommen zu Wort, auch werden Auszüge aus Gerichtsakten
und Zeugenvernehmungen eingefügt.
Das führt dazu, dass die Geschichte aus mehreren
Blickwinkeln betrachtet werden kann. So hat der Leser nicht nur die
beschönigte Variante Wapplers, sondern auch die Stimmen anderer
Personen. Der Unterschied fühlt sich manchmal an, als würde man mit
einem heftigen Knall auf dem Boden landen. Wappler erzählt von seinen
tollen Ansichten und seiner Ehre, und plötzlich liest man, wie die
Schwester von seiner Kindheit als Zigeuner erzählt, wie er verhöhnt
wurde, dass er selbst in der ersten Klasse überfordert war und in der
Schule keine Chance bekam. Er erzählt stolz von seiner durchdachten
Flucht. Sie erzählt von der Feier, die extra für ihren Sohn organisiert
wurde und bei der auf einmal nur noch die Polizeiaktion und die Flucht
im Vordergrund standen. Wenn Milliarden-Mike die Reichen wie Robin Hood
abzockt, dann mag vermutlich mancher Leser anerkennend nicken, aber wenn er dem Sohn
der Schwester den Ehrentag vermiest, das tut weh, da hat man wenig
Verständnis.
UMSETZUNG
Das
Buch ist mit Ausnahme der Einschübe anderer Personen durchgehend aus
der Sicht des Ich-Erzählers Wappler geschrieben. Die Identifikation mit
dem Betrüger fällt, da sie in geschickte Worte gekleidet ist und die
Handlungen stets nachvollziehbar dargestellt wurden, erstaunlich
(beängstigend) leicht. Ja, Wappler weiß sich in Szene zu setzen, und ich
konnte mir sein Auftreten sehr gut vorstellen. Und Gutke weiß ihm das
entsprechende Forum für seinen Auftritt zu bieten.
So betont Milliarden-Mike immer wieder seine Ehre. Er
habe niemals jemanden Maß genommen, der es nicht verdient hätte. Wer
gierig ist, der ist selbst schuld, und einen Milliardär kümmern ein paar
Millionen nicht. Einmal nur habe er eine arme Frau um 3000 Euro
erleichtert, aber er habe sich sosehr dafür geschämt, dass er sich mit
einem Blumenstrauß entschuldigte und ihr statt dessen 4000 Euro
zurückgab. Außerdem steht er zu seinen Taten, man muss Verantwortung
übernehmen, das hat ihn bereits seine Mutter gelehrt. Mal ehrlich - wem
geht bei diesen Worten nicht das Herz auf? Insgesamt ist das Buch sehr
emotional geschrieben, offenbart viel über das, was (vorgeblich, wer
vermag das zu beurteilen) in Wappler vorgeht.
Über die Gefahren dieses Buches gleich mehr, doch erst
einmal das Lob an den Journalisten: es gehört einiges dazu, einen
Menschen ins rechte Licht zu rücken, der sogar Sicherungsverwahrung
verordnet bekam. Während man als gutbürgerlicher Mensch zu Hause sitzt
und sagt "so etwas tut man doch nicht", lässt Gutke den Leser hier statt
dessen die Perspektive wechseln. Er zeigt die schillernde Welt des
Milieus, die Verlockungen des Reichtums, die dreckige Seite der gierigen
Reichen. Er schafft ein Wir-Gefühl mit einem Verbrecher. Beachtliche
Leistung und äußerst faszinierend zu lesen.
Es ist gelungen, dem Leser einen Blick hinter die
Kulissen zu bieten. Mit Erstaunen liest man, mit welch einfachen Mitteln
es möglich ist, ganz ohne Aufwand einen so simplen und doch geschickten
Betrug zu organisieren. Es kommt sogar ein wenig Bewunderung auf für
den Menschen, der so mühelos solch simplen und doch effektiven Methoden
zu entwickeln weiß. In den Zeilen spiegelt sich sehr viel
Menschenkenntnis und Gerissenheit, die in diesem Ausmaß absolut
beachtlich ist. Und wer kritisch liest, der wird sehr schnell erkennen,
weshalb Wappler kein kleiner Betrüger ist, sondern warum man ihm
ursprünglich eine Sicherheitsverwahrung andachte.
SCHWIERIGKEIT
Es ist die
Aufgabe des Journalisten, aus Sicht Wapplers zu schreiben, und das ist
ihm gelungen. Allerdings führt das dazu, dass das Buch sehr kritisch
gelesen werden muss. Es verlangt dem Leser eine gewisse Fähigkeit ab,
zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden, sich nicht um den Finger
wickeln zu lassen.
Es ist enorm, wieviel kognitive Verzerrung in diesem Buch
aufgezeigt wird, präsentiert im Brustton der Überzeugung.
Bagatellisierung, Schuldverschiebung, Generalisierung, logisch
erscheinende Rechtfertigung und weitere. Konsequenzen werden in Kauf
genommen oder falsch eingeschätzt.
Mit dem Opfer, welches zuletzt genannt wird, empfindet
der Leser kaum Mitleid. Im Gegenteil eher Schadenfreude, und das Gesetz
gibt sogar Recht, indem unter anderem im Urteil zu lesen ist: "Zugunsten
des Angeklagten hat die Kammer außerdem berücksichtigt, dass dem
Angeklagten seine Taten durch die Leichtgläubigkeit seiner Opfer,
insbesondere die des Geschädigten Hubert, leicht gemacht wurden". Und
ich gebe zu, während des Lesens habe ich oft mit dem Kopf geschüttelt
und konnte nicht glauben, was ich da las (jedoch durch Auszüge aus der
Zeugenvernehmung und dem Gerichtsurteil untermauert wurde und somit also
tatsächlich stattgefunden zu haben scheint). Dennoch - Unrecht bleibt Unrecht, egal wie gut es verpackt wird.
Gelegentlich scheint es fast, als laute die Moral:
"Verbrechen lohnt sich" (brüstet Milliarden-Mike sich gar damit, keinen
Cent bisher mit ehrlicher Arbeit verdient zu haben, bezeichnet er das
Opfer als Kuh, die gemolken werden will). In den Händen der falschen
Jugendlichen oder jungen Erwachsenen könnte ein Bild entstehen, das
absolut schädigend wirkt. Zum Glück aber dürften diese Personen eher
selten zu einer Lektüre greifen, sodass ich dieses Buch nicht wirklich
als "gefährlich" sehe. Der eigentliche Leser wird wohl klar in der Lage
sein, Recht und Unrecht zu entscheiden und die Bagatellisierungen,
Schuldverschiebungen etc als solche zu erkennen.
Und eine weitere wichtige Frage: Ist es überhaupt nötig,
einem Kriminellen wie ihm eine Platform zu bieten? Nötig - nicht
unbedingt. Sollte man es trotzdem tun? Ich finde, warum nicht. Es ist
spannend, von anderen Menschen über deren Leben zu erfahren, und man
möchte natürlich etwas erfahren, das man selbst nicht kennt aber schon
immer mal wissen wollte. In dem Fall befriedigt Herr Wappler also wieder
einmal die Gier seiner Opfer, äh, Leser, in diesem Fall die Neu-Gier,
die Sensations-Gier. Diesmal aber völlig legal, und es profitieren beide
Seiten davon. Warum also nicht? Er kann sich jetzt zumindest nicht mehr
brüsten, niemals ehrlich Geld verdient zu haben, denn ein Buch zu
veröffentlichen ist mehr als legal ;-)
FAZIT
Ein durch und durch faszinierendes Portrait, das
Recht und Unrecht scheinbar auf den Kopf stellt und die Welt aus Sicht
eines millionenschweren Hochstaplers zeigt. Spannend zu lesen, voller
interessanter Erfahrungen und Einblicke. Allerdings sollte das Buch
unbedingt mit kritischem Blick gelesen werden, denn der Journalist
versteht ebenso wie der Protagonist, den Leser geschickt auf seine Seite
zu ziehen.
SaschaSalamander 27.05.2013, 09.31
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