SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Mit Worten malen

Ich liebe es, wenn ein Autor es vermag, Gefühle und Eindrücke nicht mit Adjektiven zu vermitteln, sondern Bilder zu malen mit seinen Worten, die das Geschehen im Kopf des Lesers lebendig werden lassen. Besonders schlimm sind Klischees ("mutterseelenallein", "Haifisch-Lächeln", "sein Magen krampfte sich zusammen". Das sagt so überhaupt nichts aus, und der Leser kann sich damit identifizieren oder nicht. Ich möchte hier zwei Beispiele aus "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung" vorstellen, die mich besonders bewegt haben.

Ankunft
An einem Tag im November erreicht das Schiff endlich den Hafen, aber der alte Mann will nicht von Bord gehen. Das Schiff zu verlassen hieße endgültig alles zu verlassen, was ihn noch mit seinem Heimatland verbindet. Deshalb führen zwei Frauen ihn auf den Kai, behutsam, als wäre er krank. Es ist bitterkalt. Der Himmel ist bedeckt. Monsieur Linh will den Geruch des neuen Landes einatmen. Er riecht nichts. Da ist kein Geruch. Dieses Land ist geruchlos. Er drüctk das Kind fester an sich und singt ihm ein Lied ins Ohr. Er singt es auch für sich selbst, um seine Stimme und die Melodie seiner Muttersprache zu hören.
(P. Claudel: M Linh u d Gabe d Hoffnung; Kindler, 2006; S. 09)

Mutterseelenallein. Traurig. Verlassen. Einsam. Heimweh.
Das sind Worte, die ein anderer Autor vielleicht verwendet hätte. Auch ich habe mich schon einsam, verlassen und traurig gefühlt. Wer nicht? Und so assoziiere ich mit solchen Worten, wie sie meist verwendet werden, ein Gefühl, das mit dieser Situation in keinster Weise zu vergleichen ist. Denn mein Heimweh im Schulandheim, das kann man nicht vergleichen mit dem Heimweh eines Menschen, der nach dem Krieg seine Heimat verlassen musste, dessen gesamtes Dorf ausgelöscht wurde, der weiß, dass es "Heimat" nicht mehr gibt und nie wieder geben wird. Aber Claudel schafft es, dem Leser dieses Gefühl zu vermitteln. Es ist bitterkalt, Monsieur Linh kauert sich wohl nun in seinen Mantel, drückt die Kleine fest an sich, schützt sich gegen die Kälte der Welt. Sogar der Himmel ist bedeckt, nicht einmal von oben scheint ein Licht. Ob er, Gott, ihn wohl vergessen hat? Er muss gestützt werden, ist zu schwach, er will diese letzte Brücke nicht überschreiten, würde am liebsten wieder nach Hause fahren. Und nicht einmal einen Geruch verströmt das neue Land. Natürlich riecht es nach irgend etwas, aber für Monsieur Linh riecht es leer. Er kennt nichts davon. Alles ist neu. Keine bekannten Assoziationen, keine vertrauten Düfte, er kann das Schiffsöl, die Abgase, das Parfum noch nicht einordnen, es ist, als wäre die Luft leer ... und niemand, mit dem er reden kann, nur er selbst und die Kleine, niemand, der seine Sprache versteht ...

Nein, ich war noch nie in dieser Situation. Aber ich kann es mir nun besser vorstellen als bisher. Oft schweiften meine Gedanken beim Lesen in die Ferne. Vor allem, wenn man liest, wie Monsieur Linh verwaltet wird, wie Behörden und Mitmenschen mit ihm umgehen ... Asyl ... ein Wort, das mit diesem Buch für manchen Leser vielleicht eine neue Bedeutung bekommt, wenn er Monsieur Linh auf dessen Weg begleitet.



Das Geschenk
Vorsichtig entfernt der alte Mann das Geschenkpapier. Das dauert ziemlich lange, weil er sehr vorsichtig ist und seine Finger nicht sehr geschickt sind. Schließlich hält er eine hübsche Schachtel in den Händen.
"Worauf warten Sie noch?" Der dicke Mann sieht ihn an und lacht.
Monsieur Linh hebt den Deckel. Sein herz pocht heftig. Er stößt einen leisen Schrei aus. In der Schachtel liegt, in dünnes hellrosa Seidenpapier eingeschlagen, ein feines, herrliches Prinzessinnenkleid! Ein wunderschönes Kleid. Ein Kleid für Fang diû!
[...]
Monsieur Linh wagt es kaum, das Kleid zu berühren. Er fürchtet, es zu beschmutzen. Noch nie hat er ein so schönes Kleid gesehen. Und dieses Kleid hat der dicke Mann seinem Kind geschenkt. Monieur Linh kann nicht verhindern, dass seine Lippen ein wenig zittern. Er legt das Kleid wieder in die Schachtel, schlägt es in das Seidenpapier ein und schließt den Deckel. Er umfasst Monsieur Barks Hände und drückt sie fest, sehr fest und lange. Er nimmt Sang diû in den Arm. Monsieur Linhs Augen glänzen, er sieht seinen Freund an und die Kleine, und dann singt er leise mit seiner zarten, ein wenig rauen, zittrigen Stimme: [...]*
(P. Claudel: M Linh u d Gabe d Hoffnung; Kindler, 2006; S. 71 f)

Ach, schön ... mein Grinsen ging beim Lesen über das ganze Gesicht. Wie das Kleid aussieht, ist mir egal. Andere hätten vielleicht den Glanz und die Pracht geschildert und beschrieben, dass Monsieur Linh sich freute wie ein Schneekönig oder dass er eben einfach glücklich war. Aber diese Freude hier geht soviel tiefer. Es ist nicht nur eine Freude. Es ist eine tiefe Dankbarkeit, die dem Leser bewusst wird, wenn er die beiden Männer beobachtet. Das Lachen des dicken Herrn Bark lässt auch den Leser lachen, voller Vorfreude, was wohl in Packet sein mag. Und dann - ein kleiner Schrei. Ein Kleid! Und weil Monsieur Linh es kaum fassen kann, muss das Wort Kleid sogar mehrfach wiederholt werden, als könne er es gar nicht fassen, als würde er es immer wieder vor sich hinsagen. Er ist so glücklich, dass er fest die Hand seines Freundes drückt. Wieviel mehr steckt in einem Händedruck als in wenigen Worten, und auch die Augen des Lesers glänzen mit den beiden Freunden über diesen besonderen Moment.

Ich liebe diesen Schreibstil, aber nur bei einigen sehr wenigen Großen habe ich ihn finden können. Rilke (Panther), Cervantes (La Mancha), Hugo (Die Elenden), Adams (Watership Down), Baricco (Seide), Coelho (Alchemist, 11 Minuten), um einige zu nennen. Wie schön, dass ich diese kleine Liste für mich nun um Philippe Claudel ergänzen kann ...

SaschaSalamander 23.05.2007, 20.43

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Kommentare zu diesem Beitrag

2. von

:blume:

vom 14.08.2011, 10.32
1. von Gabriela

da hast mich aber neugierig gemacht...
schon im letzten Beitrag und jetzt erst recht, nun kann ich nur auf den baldigen nächsten Besuch aus D hoffen...
Genau das ist es, was die Faszination des Wortes ausmacht - einen Eindruck mit Gefühl zu vermitteln ohne Zuhilfenahme von Mimik und immer noch Raum lassen für eigene Interpretationen.
Sonnengrüsse :-)

vom 24.05.2007, 12.14
Antwort von SaschaSalamander:

Ja, genau das ist es ... die eigene Interpretation. Ich bin sicher, jeder Leser wird dieses Buch anders empfinden auf seine Weise, und sich dabei mit M Linh verbunden fühlen ...

hast Du es schon gelesen, wie hat es gefallen? :-)

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