SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Nicht Chicago, nicht hier

Die Autorin des Textes bloggt selbst nicht. Durch meine Rezension zu >NICHT CHICAGO, NICHT HIER< entstand aber ein interessanter Mailwechsel. Sie schrieb keine Rezension, dafür eine ausführliche Meinung, die mich sehr zum Nachdenken anregte und mir das Buch auf völlig neue Weise zeigte. Sie hat mir erlaubt, ihren Text hier einzustellen:


Meiner Meinung nach- und das ist nur meine persönliche, ohne irgendwelche Background-Infos von der Autorin oder dem Lektorat - ist es Boie gerade daran gelegen, einen Fall zu schildern, der den Leser so wütend macht, dass er selbst viel intensiver darüber nachdenkt, was ER in solch einer Situation tun würde.

An mehreren Stellen wird erwähnt, dass Niklas den Punkt verpasst hat, einzugreifen. Er hat Karl zu lange angehimmelt und war zu sehr von ihm eingeschüchtert. Direkt die erste Formulierung ist, dass Niklas ein ungutes  Bauchgefühl bei Karl hat. Er missachtet es aber und lässt sich auf etwas ein, das immer wieder einen Kloß in seinem Hals verursacht. Alles Hinweise der Autorin, dass Niklas` Inneres sich gegen Karl sträubt. Und doch, um cool zu sein oder auch, weil er fasziniert ist von dem "Zwielichtigen", lässt er sich auf Karl ein und verpasst den Moment, in dem er sich von ihm hätte distanzieren könne. Nachdem die CD geklaut war, hätte er ihm nicht das Laufwerk geben dürfen.  

Ich glaube auch, dass man sich mit den Personen gar nicht identifizieren soll. Geht es doch darum, den Leser AKTIV und somit auch Schüler in der Schule dazu zu bringen, sich überlegen zu fühlen, sagen zu können: Aber, man hätte doch dies und das machen können, meine Eltern würden aber--- die Lehrer bei uns würden aber etc. Man diskutiert darüber, muss intensiv darüber nachdenken, die Situationen durchspielen, immer wieder, und überlegen: Wo könnte es wie anders laufen? An welcher Stelle ist welches Handeln wichtig? 

Besser kann ein Buch für die Schule doch gar nicht sein. 

Als ich 14 Jahre alt war, habe ich das Buch freiwillig gelesen. Und in Form eines Referats der Klasse vorgestellt. Es hat mich sehr berührt als Jugendliche, die Sprache ist angemessen, man nimmt den Protagonisten doch sonst ihr Verhalten nicht ab. Boie hat hier meiner Meinung nach in großem  Stil Inhalt und Sprache zu einem stimmigen Ganzen vereint. Und auch hier entsteht, wie ich denke, Distanz, um den Leser aufzurütteln. Es geht nicht darum, eine LÖSUNG aufzuzeigen, sondern ein PROBLEM. Mobbing ist so weit verbreitet, kommt immer wieder vor und wird meist erst dann ernst genommen, wenn es zu spät ist. Wenn man aus dem Teufelskreis nicht mehr rauskommt. Und ebendiesen zeigt Boie auf, sie sensibilisiert für das Thema. 

Nach der Lektüre ärgert man sich über die Figuren, über ihr Handeln, überlegt, wie es eigentlich laufen sollte. 

Schon ist die Botschaft des Textes angekommen: Hey Leute, seid wachsam, wisst, was Mobbing ist, wisst vor allem, dass IHR etwas dagegen tun könnt (indem ihr erste Anzeichen ernst nehmt und nicht wartet, bis alles eskaliert) und nicht die Polizei.

Damals wurde ein Mädchen in unserer Klasse stark gemobbt. Wir regten uns alle über das Buch auf, aber hatten nicht reflektiert - erst nach einigem Diskutieren - dass wir als Klassenverband etwas Ähnliches tun - Einige mobben, der Rest greift nicht ein. DAS wurde uns durch das Buch vor Augen geführt. Auch dort mal Selbstkritik zu üben und sich zu fragen, HILFT man denn anderen? Oder registriert man nur, dass sie gehänselt und ausgeschlossen werden, verurteilt dies auch, aber handelt trotzdem nicht.   

Meiner Meinung nach sollte man in der Schule mehr lesen, über das man diskutieren kann, weil es eben keine Lösung präsentiert, sondern das Problem. 

Zuletzt noch: Leute, die selbst vom Mobbing betroffen sind, das Buch lesen und dann darin finden würden, dass die Polizei hilft, dass Karl keine Chance hat, weil alle zusammenhalten und gegen ihn sind, würden sich hintergangen fühlen. Das wäre eine Scheinwelt, das Ideal, das so aber nicht existiert. Es gibt immer Schüler, die sich irgendwie durch Unnahbarkeit und Kühle ganz nach oben pushen, es gibt immer Klassencoolste, die Sprüche ohne Ende ablassen können, sie üben unterschwellig Macht aus und es ist schwer, sich ihnen zu widersetzen. Auch das ist mal in einer Klasse von mir passiert. Bis wir alle uns gegen die beiden Sitzenbleiber, die älter, kiffend und cool waren, durchzusetzen. Denn sie hatten es innerhalb kürzester Zeit geschafft, unsere eigentlich nette Klasse zu einer aufmüpfigen und frechen Meute zu verändern.  

Zuallerletzt noch: Als Leser kann man leicht sagen, dass man es anders machen würde. Doch glaube ich auch, dass es wirklich eine schreckliche Situation ist, in die man hineingeraten kann - ich habe von so vielen Mobbingfällen am Arbeitsplatz gehört - meist ist man machtloser und schwächer, als man denkt. Und auch dort wurden erste Anzeichen immer wieder irgnoriert und heruntergespielt. Man will sich ja weder Schwäche noch Hilflosigkeit eingestehen. Und wenn man es tut, ist es meist zu spät...

SaschaSalamander 09.01.2015, 10.36

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