SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

No place, no home

Über >Morton Rhue< muss ich gar nichts mehr weiter erzählen, oder? Ein Jugendbuchautor, den spätestens seit "die Welle" oder "Ich knall Euch ab" als Schullektüre jeder kennen dürfte. Er hat auch viele weitere herausragende Bücher geschrieben, die stets mit Gesellschaftskritik gespickt sind und sich gut in die Lebenswelt der Jugendlichen hineinversetzen können. Auch unter seinem Realnamen "Todd Strasser" hat er erfolgreich Bücher veröffentlicht.

NO PLACE, NO HOME handelt dieses Mal von Dan, einem völlig normalen Jungen. Er geht auf die Highschool, ist verliebt in ein Mädchen, trainiert mit Freunden, spielt Baseball und hofft auf ein Stipendium. Doch als seine Mutter ihre Arbeit verliert und der sowieso eher häusliche Vater nicht zum Verdienst beitragen kann, können sie das Haus nicht mehr bezahlen. Vorübergehend zieht die Familie beim Onkel ein, doch als die Stimmung immer gereizter wird, müssen sie nach Dignityville. Dort leben viele Obdachlose, und Dan ist nun einer von ihnen. Er geht weiterhin auf die Schule, trifft sich mit seiner Freundin, doch er muss viele Erfahrungen sammeln, die ihn verändern. Auch beginnt er mehr für Meg, ein Mädchen aus der Zeltstadt, zu empfinden. Und plötzlich wird jemand zusammengeschlagen, eine eindeutige Warnung an die Bewohner von Dignityville ...

Dieses Buch greift also das Thema Obdachlosigkeit auf, die Hintergründe der Wirtschaftskrise werden ebenfalls erläutert. Rhue räumt mit vielen Vorurteilen auf und zeigt, dass Obdachlosigkeit nicht zwangsläufig bedeutet, dass die Betroffenen faul sind, sich um Arbeit drücken, ungepflegt sind oder ihre Lage selbst zu verantworten haben. Natürlich herrschen (vor allem in Hinblick auf die Krankenversicherung) in Deutschland andere Verhältnisse als in Amerika, doch so weit entfernt ist man auch hier nicht mehr ... viele Menschen gehen arbeiten, doch das Gehalt reicht nicht aus, um davon Nahrung, Wohnung, Versicherungen abzudecken, ein menschenwürdiges Leben ist nicht möglich. 

Auch zeigt der Autor sehr schön, auf welche Weise die Obdachlosen stigmatisiert werden. Das zweischneidige Schwert der staatlichen Hilfe, die zwar unterstützt aber zugleich auch öffentlich brandmarkt. Etwa wenn die Kinder aus Dignityville mit einem gesonderten Bus abgeholt werden und dann in der Schule ein kostenloses Frühstück erhalten, während alle Mitschüler wissen "an diesem Tisch um diese Uhrzeit sitzen nur die aus der Zeltstadt". Es ist demütigend, und der Leser / Hörer leidet mit Dan und Meg. Erst fehlt das Geld für die Kinokarte oder die Mitbrinsel auf der Party, dann wird das Handy abgemeldet, dann die Fahrt in dem Bus, immer tiefer sinkt Dan, ohne diese Abwärtsspirale verhindern zu können, sosehr er sich auch um Nebenjob und Stipendium bemüht. 

Dan als Protagonist erzählt in der Ich-Form, sodass man weitere Personen aus seiner Sicht kennenlernt und deren Motive im Unklaren bleiben. Trotzdem sind alle Charaktere sehr gut nachvollziehbar und geschickt ausgebaut. Rhue versteht es, seinen Figuren Leben zu verleihen und den Leser mit ihnen mitfiebern zu lassen. 

Ich habe ein wenig den Eindruck, dass die Geschichte um den Angriff und die Frage, wer dahinter steckt und welche Motive den Täter antreiben, eher Mittel zum Zweck ist. Worum es hier geht ist die Darstellung der Situation obdachloser Menschen. Um diese Darstellung etwas weniger trocken zu gestalten und eine gewisse Spannung einzubringen, wurde vermutlich ebendiese Handlung eingebunden. Was ich sehr gut finde, da in >Über uns Stille< aufgrund der Kammersituation dieser Handlungsaspekt fehlte und das Buch dadurch etwas schwerfällig wurde. Dieser Fehler wurde in dem neuen Buch nicht wiederholt.

Das heißt allerdings, wer Action und atemlose Spannung erwartet, der wird schnell enttäuscht. Rhue setzt vielmehr auf die Aussage des Buches und die Darstellung von Dans Alltag, um die Jugendlichen an das Thema heranzuführen. Während Dan als Ich-Erzähler durch das Buch führt, liest / hört man einen Dialog zwischen zwei Personen, die sich für den Angriff verantwortlich zeichnen. Doch sehr schnell ist dem Leser klar, wer dahintersteckt, und spannend ist weniger die Frage "wer und warum" als vielmehr "wann und wie wird Dan dahinterkommen". 

Paul Kindermann als Sprecher des Dan war mir bisher nicht bekannt. Er hat eine ruhige Stimme, die er nur selten variiert in Tempo, Lautstärke oder Stimmhöhe. Dadurch wirkt der Vortrag sehr gleichmäßig, hätte an manchen Momenten etwas mehr Einsatz vertragen können. Insgesamt allerdings passt Kindermann recht gut zu diesem Buch, da er Dans Gedanken gut wiedergibt und sich auf das Wesentliche, nämlich die sachlichen Elemente des Buches, konzentriert. Christian Rudolf und Bernd Stephan machen in ihrem Dialog alles richtig, der eine bedrohlich und souverän, der andere vorsichtig und untergeben, sodass man die jeweilige Situation sehr gut vor Augen hat. 

Das neueste Buch von Morton Rhue ist also nach dem leicht schwächeren Vorgänger auf jeden Fall wieder sehr gelungen. Für an kritischen Büchern interessierte Leser / Hörer kommt niemals Langeweile auf, die Thematik wird trotz der komplexen Zusammenhänge jugendgerecht und ohne Zeigefinger dargestellt, die Charaktere sind sympathisch und greifbar. Klare Empfehlung für alle Jugendlichen (und natürlich junggebliebenen Erwachsenen). 

SaschaSalamander 01.10.2013, 08.37

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