SaschaSalamander

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Sakura-Gari

watase_sakura02_1.jpegÜber diesen Manga zu schreiben, fällt mir nun sehr schwer. Zum einen, weil man ihn nirgendwo so recht einsortieren kann. Und zum anderen, weil ich befürchte, dass ich die Tragweite und Bedeutung dieses Ausnahmewerkes nicht wirklich vermitteln kann. Ich werde es jedoch versuchen. Und ich möchte diesmal auch die Nicht-Manga-Leser meines Blogs bitten, diese Rezension zu lesen, denn SAKURA-GARI ist wieder einmal ein Beweis dafür, dass es nichts mit Kinderbüchern oder Comics zu tun hat, sondern dass es sich bei Mangas um eigenständige literarische Werke auch für Erwachsene handelt.

Tokio im Jahr 1920. Der junge Schüler Masataka Tagami möchte gerne auf eine große Universität. Dafür muss er eine Vorbereitungsschule absolvieren und benötigt Unterkunft und Auskommen. Er bewirbt sich bei dem Adligen Souma Saiki, der ihn anfangs ablehnt, dann jedoch als Famulus einstellt. Er ist bezaubert von dem attraktiven Mann und gerät "in seinen Bann", was ihm sehr bald zum Verhängnis werden soll. Immer mehr offenbaren sich die Abgründe, welche sich in dem Hause Saiki abspielen, doch für Masataka ist es zu spät, er ist bereits ein Teil des großen Gesamten geworden, umwoben, verstrickt. Er will fliehen, und doch kann er nicht von Souma lassen.

Ich möchte nicht zu viel von der Geschichte vorwegnehmen, denn sie entwickelt sich schleichend wie ein in winzigen Dosen verabreichtes Gift, und von Band zu Band (abgeschlossen in drei Bänden), von Seite zu Seite wird dem Leser immer klarer, was eigentlich geschieht. Es gibt unzählige Überraschungen, und was sich nach und nach offenbart, lässt den Leser zurück mit einem gewaltigen Kloß im Hals.

Auch, wenn der Vergleich beiden Werken nicht gerecht wird (da es sich um zwei komplett unterschiedliche Medien und Inhalte handelt), so musste ich während der Lektüre sehr oft an THE FALL OF THE HOUSE OF USHER von Poe denken. Auf den ersten Blick mag es wenig Ähnlichkeit geben, aber die tiefergehenden Inhalte, die tragische Bedeutung einzelner Elemente, ... nein, ich will nicht sagen, dass die Autorin von diesem Werk inspiriert war, keinesfalls. Aber beide haben mich auf gleiche Weise aus den gleichen Gründen bewegt und schockiert, und ich halte SAKURA-GARI für literarisch ebenso wertvoll.

Die Autorin Yuu Watase ist Manga-Fans vor allem durch die Serie FUSHIGI YUUGI und AYASHI NO CERES bekannt. Ersteres ein romantischer Fantasy-Mädchenmanga. Zweiteres zwar mit romantischen Anteilen und Fantasyelementen, aber doch schon eher ein Drama. Wer diese beiden Titel kennt und von daher auf SAKURA-GARI schließt, womöglich noch sagt "oh, toll, Shonen Ai", der wird kräftig auf die Nase fallen. Denn auch, wenn man ihren unverkennbaren Zeichenstil sofort erkennt - der Inhalt ist ein komplett anderer und nichts, absolut nichts mit den niedlichen Stories zuvor zu tun.

Auch der Begriff Shonen Ai / Boys Love ist so extrem irreführend, dass ich wütend werden könnte über diese Vermarktung. Schade nur, dass "Drama" alleine dem Thema auch nicht gerecht wird. Und, ja, hier und da erotische (oder, besser: sexuelle) Szenen kommen in fast allen Bestsellern gleichwelcher Nationalität vor, aber hier sind sie eben sehr explizit, heftig, und noch dazu homoerotisch. Jedoch nicht als Darstellung von Erotik, wie sie sonst in Boys Love gezeigt wird, sondern als psychologisches Element, als Mittel der Macht. Wunderschön gezeichnet, und doch regt sich nicht die geringste Lust beim Leser, da die Umstände der jeweiligen Situation nur schwer verdaulich sind. Trotzdem ist es wichtig, das Werk auch unter dem Label Boys Love zu vermarkten, da "normale" Leser ziemlich schockiert sein könnten.

Wie nun soll ich die Geschichte beschreiben? Was gibt es noch zu erwähnen? Zuerst einmal möchte ich noch ein wenig näher auf die Charaktere eingehen. Außer Masataka und Souma gibt es noch andere Figuren, und alle sind sie sehr lebendig dargestellt. Man kann sich sehr gut in jeden einzelnen hineinversetzen, und die beiden Hauptdarsteller werden äußerst geschickt in Szene gesetzt. Nach und nach enthüllen sie beide ihre Vergangenheit. Man erfährt von ihren Ängsten, ihren Vorlieben, ihren Sehnsüchten, sie werden plastisch greifbar, als wären sie reale Menschen, die Watase sich zum Vorbild genommen hätte, als würden sie jeden Moment dem Heft entspringen und würden lebendig. In ihren Augen spiegeln sich Trauer, Angst, Melancholie, Hass, Leidenschaft, Liebe, Ekel, wie man es nur selten in dieser Intensität bei Mangas erlebt. Die Geschichte handelt von Mord, Misshandlung, Missbrauch, Depression, Selbstmord, Obsession und Wahnsinn, hübsch verpackt hinter einer Fassade von Adel und Wohlstand, und die Zeichnerin lässt den Leser all diese Dinge am eigenen Leib spüren, statt nur davon zu berichten. SAKURA-GARI ist wie ein Strudel, der alles in sich verschlingt.

Die Wandlung der Figuren und auch der Handlung ist gekonnt dargestellt. Wie zuvor gesagt, es ist ein schleichendes Gift. So beschließt Masataka zu Beginn, die Mauer des Schweigens zu durchdringen. Als er endlich fliehen kann, hat er die Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen Doch statt dessen muss er erkennen, dass auch er zu einem Teil dieser Mauer wurde, dass auch er aus freien Stücken schweigt und die Familie vor dem Zugriff von außen schützt, wenngleich sich alles in ihm dagegen sträubt. Oh, die Entwicklung ist so genial dargestellt, und ich bin immer wieder aufs Neue begeistert, wie man es in Japan schafft, mit Andeutungen und knappen Erzählungen solche wunderbar komplexen Werke auf die Beine zu stellen, wo man bei uns im Westen einen Thomas Mann von 1000 Seiten bräuchte!

Nicht unerwähnt bleiben darf auch die historische Komponente. Der Manga spielt in der >Taisho-Zeit<. Nun kenne ich mich natürlich nicht in japanischer Geschichte aus, und die Autorin gibt auch zu, hier und da trotz intensiver Recherche möglicherweise Fehler eingebaut zu haben. Trotzdem ist es eine sehr schöne Darstellung, und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es wirklich so war (ein wenig Hintergrund habe ich ja nun doch, komplett unbedarft gehe ich an das Thema ja nun doch nicht heran). Es ist gewissermaßen ein "historischer" Manga, was ihn ebenfalls zu etwas Besonderem macht. Genauso wie BARFUSS DURCH HIROSHIMA oder ADOLF wird hier sehr gut geschildert, wie es damals war.

Der Manga ist ungewöhnlich dick, der Preis ist mit 7.50 Euro sehr fair. Ich habe an einem Titel fast doppelt so lange gelesen wie an einem normalen Titel. Gut, andere Mangas haben um die 190 Seiten, daran alleine lag es nicht. Sondern auch daran, dass ich langsam lesen musste. Der Inhalt will verdaut sein, man kann ihn nicht nebenbei überfliegen. Gelegentlich musste ich zurückblättern, ob ich mich recht erinnerte (wie gesagt: in japanischen Filmen und Büchern wird sehr gerne nur angedeutet statt zu zeigen). Und die Bilder sind wunderschön, oft betrachtete ich nur lange Zeit die zarten Gesichter und Details.

Die Bilder sollten übrigens nicht über den Inhalt hinwegtäuschen. Hier wird so einiges auf den Kopf gestellt. Die >Kirschblüte (Sakura)<, sonst in der Regel ein Symbol für Schönheit, Reinheit, Frühling, sie wird hier zu einem Zeichen für das Böse, der Kirschbaum Zeuge schicksalshafter Momente, die Blüten zu einem Sinnbild der Verachtung. Der Leser darf sich nicht täuschen lassen von romantisch wehenden Blütenblättern, von einem hübschen Cover, denn dahinter wartet ein historisches Drama um Macht, Gewalt, Politik und Verbrechen.

SAKURA-GARI ist ein Titel, der in meiner Favoritenliste ganz oben steht. Es ist eines der Werke, die ich auch denen empfehle, die an sich keine Leser von Comics oder Mangas sind. Es ist eine Erzählung, die ich jedem nur empfehlen kann. Wenn es nur wenige Mangas gibt, die man gelesen haben sollte, dann ist dies auf jeden Fall einer davon!

SaschaSalamander 04.03.2011, 09.31

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