SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Schwarz wie Schnee

wilke_schnee_1.jpegAUTORIN

Vor einiger Zeit stolperte ich über >HOLUNDERMOND< von >Jutta Wilke<. Das Buch hat mir außerordentlich gut gefallen, und ich wurde neugierig auf weitere Titel der Autorin. Einige Zeit später erschien >WIE EIN FLÜGELSCHLAG<, ebenso wie das neueste Buch nun ein Jugendroman, allerdings weniger düster und mit mehr kriminalistischen Elementen. >FLORENTINE< ist ein reines Kinderbuch, das mich wieder einmal richtig begeistert hatte. Ich mag es, wie die Autorin ihre Plots erarbeitet und den Leser durch den Roman führt. Sie nimmt ihre Leser ernst und vermag es, ihren Stil dem jeweiligen Genre - ob nun Kinder, Jugend oder All-Ager - anzupassen, ohne sich dabei zu verbiegen. Leichtfüßig bewegt sie sich zwischen den einzelnen Ebenen, schreibt mal humorvoll, mal düster. Ich bin gespannt, welches Genre mich als nächstes erwarten wird.

INHALT


Kira erwacht nach einem Unfall im Krankenhaus. Sie kann sich an nichts erinnern, erkennt nicht ihre Mutter und auch nicht den Klassenkameraden. Niemand außer den beiden besucht sie, viele Freunde schien sie nicht gehabt zu haben. Bald darf sie zurück in ihr altes Leben, doch sie ist unsicher, findet sich nicht zurecht. Warum erinnert sie sich an die "falschen" Dinge, warum fühlt sich ihre Kleidung an wie die einer Fremden, warum kann sie auf einmal Kuchen backen? Immer mehr "Fehler" findet sie, und sie fragt sich, was vor ihrem Unfall tatsächlich passiert sein mag. Der Arzt sagt, es läge an den Medikamenten, die eine Paranoia hervorrufen können, doch Kira spürt, dass es etwas anderes sein muss ...


GENRE

SCHWARZ WIE SCHNEE ist ein Jugendthriller. Bis kurz vor Ende ist es ungewiss, ob er in die dystopische, fantastische oder reale Richtung gehen wird. Sehr viele Mystery-Elemente sind enthalten, die den Leser lange Zeit auf verschiedene Fährten zu locken vermögen. Für mich war vor allem dieser Punkt das, was den Großteil der Spannung ausmachte. Mir fielen viele Szenarien und ähnliche Romane ein, welche eine Erklärung für Kiras Erlebnisse bilden könnten. Ich war froh, dass Jutta Wilke ihren eigenen Weg gewählt hat und nicht den xten Aufguss zweier inzwischen ausgenudelter Themen geboten hatte. Ein Novum ist die Antwort zum Schluss dennoch nicht. Was aber neu ist, das ist die Umsetzung des Themas in düsteren Thrillermomenten, was mir sehr gefiel und eine wirklich gute Idee ist.


CHARAKTERE

Die Handlung wird aus der Sicht der Ich-Erzählerin und Protagonistin Kira geschildert. Es ist vom ersten Moment an möglich, sich in das Mädchen hineinzuversetzen, die Angst und das Gefühl der Bedrohung gehen quasi nahtlos auf den Leser über. Es ist auffällig, wiesehr Kiras Leben und ihre Handlungen, Empfindungen im Konflikt stehen. Sie möchte helle Kleidung tragen, findet jedoch nur düstere Oberteile im Schrank. Nennt ihre Mutter nicht wie zuvor üblich "Mum". Und vor allem: hat keinerlei Bezug zum Rauchen oder gar zu Drogen, obwohl alles in ihrem Leben darauf hindeutet. Der Roman befasst sich also vor allem mit der Frage "wer bin ich" und "wodurch definiert sich mein Leben". Kira ist quasi von heute auf morgen eine scheinbar andere Person, und das passt nicht mit ihrer aktuellen Situation zusammen. Wiesehr wurde sie von ihrer Umwelt geprägt, und was geht tatsächlich von ihr aus? Nature or Nurture, Angeboren oder Erworben, das ist eine der indirekten Kernfragen des Buches und spiegelt sich hervorragend in Kiras Situation.

Andere Figuren werden lediglich aus der beobachten Position der Protagonistin heraus beschrieben. Die zwei wichtigsten Figuren sind die Mutter und Kiras Klassenkamerad Julian. Da Kira sich bedroht fühlt und in vielen Dingen Heimtücke erwartet, traut sie ihnen nicht, und auch der Leser wird mehrfach aufs Glatteis geführt. Was tatsächlich in den beiden vorgeht, bleibt verborgen. Andere Figuren wie die Lehrer, zwei Nachbarsmädchen oder weitere Klassenkameraden werden angerissen, nehmen wichtige Rollen in Kiras Identitätsfindung ein aber werden nur am Rande behandelt. Über sie erfährt man sogut wie gar nichts.


SCHREIBSTIL

Ein Ich-Erzähler ist von Natur aus sehr persönlich und eindringlich. Doch hier wird nicht nur das Innere beschrieben sondern auch das Äußere sehr stark vermindert. Selten ist ein Jugendbuch so intensiv auf das Innenleben eines Charaktes bezogen. Die Handlung spielt zwar eine wichtige Rolle in SCHWARZ WIE SCHNEE, der Großteil des Buches wird aber dennoch von Kiras Erleben getragen. Was wirklich passiert, erfährt man nicht, sodass sehr viele Fragen offenbleiben und auch nach Abschluss nicht geklärt werden. Kira kann ihrem Erleben nicht trauen, Wahn und Wirklichkeit, Erinnerung und Gegenwart prallen unvereinbar aufeinander. Dadurch entsteht für den Leser das Gefühl einer nicht greifbaren Bedrohung, ungewiss ob tatsächlich real oder nur von Kira empfunden. Das Buch liest sich extrem schnell, ist hochspannend, und man kann es vom ersten bis zum letzten Satz kaum aus der Hand legen.

Kira wirkt nach dem Krankenhaus sehr benommen, und entsprechend sind die Sätze im Buch sehr knapp, fast nur Hauptsätze. Abgesehen von der Schlichtheit, die sehr gut Kiras Orientierungslosigkeit widergibt, hat dies vor allem den Effekt der Atemlosigkeit: nicht nur die inhaltliche Spannung, auch der Schreibstil verleitet zum raschen Weiterlesen, "nur noch ein Satz, geht ganz schnell" ...

Jutta Wilke vermag es zudem, in sehr bildhaften Metaphern zu schreiben, ihre Sprache ist wohlklingend und trotz (bzw gerade wegen) der Schlichtheit sehr eindringlich.

Ein kursiv gedruckter Text zwischen einzelnen Kapiteln lässt den Leser im Unklaren, ob hier über Kira gesprochen wird oder eine andere Person. Die stete Frage, was es mit den kurzen Passagen auf sich hat, trägt ebenfalls zur Spannung bei.


AUFBAU

Das Buch beginnt mitten in der Handlung, Kira öffnet die Augen und befindet sich im Krankenhaus, weiß nicht was geschehen ist. Von ihrem Erwachen nach dem Koma hin zum finalen Showdown mit seiner Auflösung erfährt der Leser nun schrittweise immer mehr. Anfängliche Unsicherheit hin zu den ersten Unstimmigkeiten bis hin zu panischer Angst und völliger Desorientierung, sich stetig steigernd und das Lesetempo immer mehr erhöhend, äußerst gelungen.

Was mir bei den Büchern der Autorin immer wieder gefällt, ist der gut ausgefeilte Plot: die Lösung liegt auf der Hand, Hinweise sind von Beginn an vorhanden, und am Ende sagt man "mensch, das war doch sooo klar". Doch die falschen Fährten locken immer wieder in eine andere Richtung, und der Leser darf sich keinen Moment in Sicherheit wiegen. Viele kleine Hinweise liegen in belanglosen Nebensätzen, bieten sich dem Leser ganz offensichtlich an. Jutta Wilke schreibt die Art Bücher, die sich lohnen zweimal zu lesen, einmal zur Spannung und ein zweites Mal, um die Hinweise herauszupicken und sich an der gut aufgebauten Geschichte zu erfreuen.

Inhaltlich lässt sich das Buch für mein Empfinden in drei bzw vier Teile gliedern: die Zeit im Krankenhaus, anschließend die Zeit erst zu Hause und dann in der Öffentlichkeit / Schule, zum Abschluss das Finale. Der zweite (und dritte) Teil nehmen 95 Prozent des Buches ein, für den Anfang und das Ende wurde kaum Raum belassen. Den Anfang hätte man ausbauen können, gerne hätte ich einige zusätzlichen Dinge gelesen, aber das war nicht notwendig. Das Ende allerdings ist sehr, sehr knapp gehalten, lässt extrem viele Fragen des bisherigen Geschehens und der weiteren Entwicklung offen, zack aus vorbei.


EIGENE MEINUNG

Ich fand das Buch sehr spannend zu lesen und habe es aus zeitlichen Gründen zwar nicht in einem Rutsch aber ebenso atemlos gelesen. Immer weiter, immer schneller, voll dabei und mitten im Geschehen. Ich bin froh, dass die Autorin nicht eine andere Lösung wählte und das Ende auf diese Weise umsetzte. Allerdings gibt es etwas, an denen ich mich im Nachhinein doch gestoßen habe. Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Für die Zukunft ist mir das egal, denn ich mag offene Enden, die den Leser zum Nachdenken anregen. Doch das Geschehen des Buches mag ich lieber in sich geschlossen und gut erklärt. Gerne hätte ich erfahren, was manche Szenen nicht aus Kiras Sicht darstellten, sondern wie sie sich tatsächlich abgespielt hatten. Wüsste gerne, was es mit einigen Dingen auf sich hatte, hätte gerne mehr über das Lebensfeld und die Sichtweise anderer Charaktere erfahren. Eine weitere Frage, die mich seitdem nicht mehr loslässt, kann ich hier aus Spoilergründen nicht umschreiben, doch die Unschlüssigkeit dieses Punktes schmeckt mir nicht, da fehlt für mich einfach etwas.

Um das Buch objektiv zu bewerten, muss ich aber fair sein: das Buch hat als Ziel, vor allem Kiras Zwiegespaltenheit und ihre Angst, und die Frage nach ihrer Identität, ihrer Entwicklung ist Dreh- und Angelpunkt des Romanes. Alles andere ist nicht relevant und muss daher auch nicht geschildert werden, es wäre ein Bruch mit der Intention und dem Genre. Bereits die intensive Schilderung des Innenlebens zeigt, wie wenig von Belang das ist, was mit den Personen um sie herum geschieht. Auf die Frage, wie man es anders und gar besser hätte machen können, kann ich keine Antwort geben, denn in sich ist der Roman absolut stimmig und hätte nicht anders sein dürfen. Es geht halt nicht immer nach meiner Nase ;-)


FAZIT

SCHWARZ WIE SCHNEE ist ein sprachlich und inhaltlich packender Jugendroman, der bewusst von den gängigen Klischees abweicht und von dem man keinen klassischen Aufbau erwarten darf. Klare Empfehlung für alle, die spannende Unterhaltung lieben.

Wertung: 4,6 von 5 Stoffhasen

SaschaSalamander 09.10.2012, 08.37

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