SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Vergissdeinnicht

clarke_vergiss_1.jpgINHALT

Grace sitzt in einem Raum, alles um sie herum ist weiß. Sie kann sich nicht erinnern. Sie weiß nicht, wer Ethan ist, der sie regelmässig besucht, um ihr Essen, Kleidung, Stifte und Papier zu bringen. Sie weiß nicht, wie sie in den Raum gekommen ist. Sie wollte sich umbringen, dann kam Ethan. Aber warum ist sie jetzt hier? Was ist passiert?


AUFBAU

Der Rest ist schwer zu beschreiben. Da es ein sehr ernstes Buch ist, halte ich es für wichtig, den Leser auf das Buch vorzubereiten. Wer es liest, weil er einen netten Teenie-Roman vermutet, sollte wissen, was ihn erwartet. Ich werde selbstverständlich nicht bezüglich des Inhaltes spoilern, doch die Themen sollen genannt werden:

Grace nutzt das Papier, die Stifte, sie beschreibt ihr Leben, das nach dem Tod des Vaters aus dem Tritt geriet. Sie denkt an ihre beste Freundin Sal und an einen großen Streit. Daran, dass sie sich wider Erwarten in einen Jungen, Nat, verliebt hatte. Beschreibt die Momente, in denen sie sich selbst schwere Verletzungen zufügte. Und je mehr sie schreibt, desto intensiver werden ihre Erinnerungen, desto näher kommt sie der Wahrheit über den Raum, ihre Vergangenheit und sich selbst.

Das Buch besteht einzig aus Graces Gedanken, die sie tagebuchartig niederschreibt. Dabei gibt es zwei beziehungsweise drei Erzählebenen: In der ersten erzählt sie von Ethan, dem Raum und den Veränderungen, die sie an sich spürt. Der Prozess des Schreibens gibt ihr Kraft. Auf der zweiten Ebene erzählt sie aus ihrem Leben, von ihrer Freundschaft, von ihrer ersten Liebe. Dies ist der Kern der Handlung, welche lässig beginnt und immer mehr dem Finale bis hin zum geplanten Selbstmord entgegenrast. Dann gibt es, nicht als dritte Ebene, aber unabhängig von den ersten beiden, immer wieder einmal Einschübe über frühere Ereignisse. Sie folgen nicht dem roten Faden der Handlung, stehen für sich, erhellen dem Leser die Zusammenhänge und lassen Grace sich selbst immer besser erkennen.

Es ist eine Art Puzzle, welches die Autorin dem Leser präsentiert, und das Motiv ist unbekannt. Mit jedem kleinen Teil, das man sieht, beginnt man das Gesamtbild zu erahnen. Bereits nach wenigen Seiten kannte ich das Bild (für manche mag es eine Überraschung sein, geübte Leser werden es allerdings recht schnell erkennen), trotzdem wollte ich die Details, die Zusammenhänge, nicht nur die Ahnung des Bildes sondern das fertige Bild selbst. 


SPRACHE

Ein sehr deutliches Stilmittel des Buches ist die Sprache. Grace schreibt Tagebuch, und dabei verwendet sie Umgangssprache. Ich denke, für viele Leser wird dies zu Beginn schwierig sein, denn der Stil ist sehr gewöhnungsbedürftig. Obwohl ich sofort mitten im Geschehen war und das Buch nicht mehr beiseite legen konnte, braucht es ein wenig, bis ich nicht mehr über die Worte stolperte sondern flüssig weiterlesen konnte.

Ein paar Beispiele, die in dieser Form häufig anzutreffen sind:

"Ich sagte zu mir: ich werde nicht weinen ich werde nicht weinen ich werde nicht weinen," "Hatte sie so eine Wie-man-eine-gute-Mutter-ist-Sendung gesehen?", "Sie hatte sich (Schock! Horror!) nicht geschminkt," "Er antwortete eine Eeeewigkeit nicht auf meine SMS," "Realitätsverlust = nicht gut". Dazu kommen Wortschöpfungen wie "Mittagessenzeug".

Wie gesagt, es störte mich nicht. Im Gegenteil, ich fand es sehr gelungen. Dafür, dass Grace eine gute Schülerin ist und immer wieder betont, dass sie selbst auch Gedichte und Geschichten schreibt, mag es ungewöhnlich sein. Doch ein Tagebuch, das Aufzeichnen der Gedanken, das ist etwas anderes. Und ich fühlte mich an meine Tagebuchzeit erinnert, und das sah ähnlich aus, da gab es keine Schreibregeln, nur meine Gedanken. Inclusive Wortschöpfungen, Wortwiederholungen, haufenweise Worte in Großbuchstaben, und und und. Grace schreibt nicht für andere, sie schreibt für sich, und ich empfinde ihren Stil als realistisch, er passt sehr gut zu dem jungen Mädchen, ihrer Angst, ihrer unausgesprochenen Wut, ihrem in falsche Bahnen gelenkten Hass.


CHARAKTERE

Da die Autorin die Geschichte von Grace als Ich-Erzählerin schildert, gewinnt der Leser einen sehr tiefen Einblick in ihre Gedankenwelt. Diese ist geprägt von Selbstzerstörung und Verzweiflung. Nach außen hin handelt Grace oft irrational, man möchte sie gerne packen und ihr ins Gewissen reden. Doch zugleich erkennt man ihre Beweggründe, kann sie weder gutheißen noch nachvollziehen, aber dennoch verstehen. Stellenweise empfand ich das Lesen als schmerzhaft, denn ich konnte mich sehr gut in Grace hineinversetzen, wenn auch unvernünftig war das Handeln dennoch in sich stimmig. Das Mädchen weiß, was sie tut, sie ist sich ihrer Selbstzerstörung bewusst, sie leidet darunter, verspricht sich zu ändern, weiß dass sie es nicht kann und setzt doch wieder alles daran, ihr Leben zugrunde zu richten. Sie beschreibt sich selbst sehr treffend: "Ich war ein Klischee, und nicht mal ein gutes".

Graces beste Freundin, ihr Freund, die Mutter, Ethan, der Vater sowie einige weiteren Charaktere werden jeweils aus Sicht der Protagonistin geschildert. Dadurch wirken sie entsprechend verklärt oder verzerrt, die Autorin spielt gekonnt damit, die wahren Beweggründe der anderen Figuren zu verschleiern, sodass man einiges zwar erahnen kann, es aber dennoch im Unklaren bleibt bis zur endgültigen Auflösung auf den letzten vier Seiten.


TRIGGER-WARNUNG!

Harter Tobak, besonders für Jugendliche in ähnlichen Situationen. Speziell diese Zielgruppe halte ich für kritisch, denn die Identifikation mit der Protagonistin fällt leicht, und obwohl ihr Handeln deutlich als falsch ersichtlich ist, sympathisiert man auch mit ihr. Hohes Triggerpotential, mit dem man Jugendliche mit SVV, Borderline und Suizid keinesfalls alleinelassen sollte. Auch die Themen Abtreibung und Vergewaltigung werden hier sehr intensiv geschildert. Ich finde es wichtig, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, durchaus. Aber die Gefahr sehe ich darin, dass der Klappentext dies nicht erwähnt. So ist dem jugendlichen Leser unklar, ob ihn eine Romanze erwartet, ein Fantasyroman, ein Thriller oder wie in diesem Fall ein Drama.

Besonders das Thema SVV und Borderline wird realistisch dargestellt. Unabhängig von Klischees und Vorurteilen schreibt die Cat Clarke über Gefühle davor, währenddessen und danach. Borderline wird gerne auf das "Ritzen" reduziert, davon gehört hat jeder schon einmal, aber das Krankheitsbild selbst bleibt Unbeteiligten eher diffus. Es gelingt der Autorin sehr gut, unabhängig von Lehrbüchern oder medizinischen Begriffen ein realistisches und teils auch verstörendes Fallbeispiel zu schildern.

Von daher: TRIGGERWARNUNG!


MEINE PERSÖNLICHE MEINUNG

Da das Buch keinerlei Information über das Genre preisgab und ich keine Rezensionen las, war es natürlich etwas, worauf ich mich unbefangen einlassen musste. Hätte ich gewusst, dass es um eine Jugendliche geht, um erste Liebe, um beste Freundinnen, um Shoppen, um Parties und Alkohol, dann hätte ich die Finger von diesem Buch gelassen. Ich bin froh, dass ich dies nicht getan habe. Eigentlich ist das nicht mein Beuteschema, doch ich war von der ersten Seite an gefesselt.

Nein, ich mochte Grace nicht, und ich fand ihr Verhalten schrecklich, aber dennoch empfand ich Sympathie mit ihr, auf gewisse Weise auch Mitleid mit dem in sich selbst gefangenen Mädchen, das sich selbst dabei zusehen muss, wie sie alles verlor und das letzte, was sie hatte, schrittweise noch zerstörte, ihre Wut auf sich selbst und die anderen stetig wachsend, enttäuscht von allen um sie herum. Durch den Schreibstil und die intensiven Beschreibungen hatte ich das Gefühl, Grace persönlich zu kennen. So als würde all dies einer guten Bekannten geschehen, fühlte ich mich persönlich betroffen.

Obwohl ich schon zu Beginn die Auflösung wusste, konnte ich das Buch nicht mehr weglegen, bis endlich das Puzzle komplett war. Ich bin sowieso ein flinker Leser, aber bei diesem Buch habe ich nicht mehr nur schnell gelesen, sondern ich bin regelrecht von Seite zu Seite gehetzt, habe nur noch überflogen, ich wollte unbedingt vorankommen, schneller lesen, mehr erfahren.


FAZIT

Cat Clarke packt den Leser am Arm und schleift ihn hinter sich her, er zieht sich dabei Schrammen und Kratzer zu, kann das Buch nicht unbeschadet überstehen. Es schmerzt. Aber es ist wichtig, denn die Themen sind von großer Bedeutung. Die Autorin gewährt ungeschönten Einblick in die Gedankenwelt eines von Selbstverletzung und Selbstzerstörung geprägten Mädchens, hilft Außenstehenden diese Problematik zu verstehen.

Ich rate Personen ab, die durch die oben genannten Themen (SVV, Borderline, Suizidgedanken, Vergewaltigung, Abtreibung) getriggert werden können.

Und allen anderen lege ich dieses Buch ans Herz. Ein absolutes Must-Read!

SaschaSalamander 19.04.2012, 09.02

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von

:coffee: :buch: :book: :zwinker: :haeh: :wink: :blume: :write: :write: :master: :book: :book: :coffee:

vom 06.06.2012, 15.15

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