SaschaSalamander

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Tag: Erfahrungen

Getrieben

altmann_getrieben_1_1_1.jpgAUTOR

Ende letzten Jahres lernte ich den Autor >Andreas Altmann< in seinem damals neuen Werk >DAS SCHEIßLEBEN MEINES VATERS< kennen, habe hier und da Beiträge und Artikel von ihm gelesen, auch das Buch >TRIFFST DU BUDDHA, TÖTE IHN< hat mich sehr angesprochen. Inzwischen liegen weitere Bücher von ihm in meinem Regal und warten auf mich. Sogar eine >Lesung< mit ihm durfte ich besuchen, die mir sehr dabei half, einen Zugang zu diesem doch recht ungewöhnlichen Schriftsteller zu gewinnen.

Seine Biographie hier zusammenzufassen würde den Rahmen sprengen, Altmann spricht am besten für sich selbst, man lernt ihn über seine Bücher kennen. Durch seinen schonungslos offenen Stil gewährt er dem Leser nicht nur Einblick in fremde Länder und neue Erfahrungen, sondern auch in seine Gedankenwelt, sein Innerstes. Das Lesen eines seiner Bücher ist eine Begegnung mit dem Menschen Altmann und eine berauschende Erfahrung.

Der >Solibro-Verlag< hat sein Werk >GETRIEBEN< von 2005 zu meiner großen Freude neu aufgelegt und sich zur Vertreitung des Titels auch an einer Aktion bei >BloggDeinBuch< beteiligt. Daher freue ich mich, nun auch dieses Buch in den Händen zu halten und Euch vorzustellen.


INHALT, AUFBAU

In GETRIEBEN lässt Altmann den Leser an den unterschiedlichsten Erfahrungen teilhaben. Er gibt Schreibtipps, erzählt von Potenzproblemen, Versicherungsbetrug, homosexuellen Selbstversuchen, vielfachem Diebstahl, dem Reiz unerreichbarer Sehnsucht und der für ihn nicht erfüllenden greifbaren Liebe, singt ein Loblied auf die deutsche Sprache, wettert in auszugsweise veröffentlichten Briefen gegen Redakteure. Manche seiner Texte sind gerade einmal drei Seiten lang, andere dreißig. Zwar sind die Erzählungen inhaltlich grob strukturiert, dennoch passen viele seiner Beiträge auch in andere Kategorien, es gibt keinen konsequenten roten Faden abgesehen von dem steten Drang nach Erfüllung. Wer Altmann als Reiseschriftsteller schätzt und ausschließlich von fernen Ländern lesen möchte, der wird hier enttäuscht werden, von Reisen erzählt er hier kaum. Dieses Buch richtet sich vielmehr an Menschen, die das Leben ausschöpfen wollen. Wofür anderen der Mut fehlt - Altmann riskiert, lebt und teilt es. Durch ihn kann der Leser neue Erkenntnisse sammeln und über Dinge staunen, über die andere nur hinter vorgehaltener Hand sprechen. Tabulos und direkt, ungeachtet der Moral unzähliger Gutmenschen. Er kostet das Leben aus, ist getrieben vom Kick nach Neuem, nach Abenteuer und Freiheit, und davon handeln seine Worte.


SPRACHE, STIL

Wie auch im Leben vermeidet er in seinem Schreiben das Gewöhnliche. Seine Sätze empfinde ich als Erotik, als Lust, und wie diese sind sie schmeichelnd, lüstern, zärtlich, verheißungsvoll, abwechslungsreich, manchmal auch dreckig, wild, ungestüm, verdorben, grenzüberschreitend, provokant. Altmanns Sprache ist Tango mit der  Geliebten, durchdrungen von Feuer und Leidenschaft. Doch anders als viele Autoren ist er dabei nicht vulgär, sondern setzt den verbalen Dirty Talk als Stilmittel ein, um seine Aussagen zu betonen und den Leser ganz persönlich zu treffen. Er öffnet sich, gibt sich exhibitionistisch, und er erwartet vom Leser ebensolche persönliche Beteiligung, buhlt um seine Aufmerksamkeit.

Für mich sind Bücher gut, wenn sie mindestens unterhalten oder bereichern. Altmann gelingt beides. Ich teile seine Meinungen nicht, würde selbst oft anders halten und kann viele seiner Taten nicht gutheißen. Doch gerade deswegen liebe ich seine Bücher: weil sie mir eine neue Denkweise aufzeigen, weil sie mich über meinen Horizont hinaustragen und mir seine Welt zeigen, die so völlig anders ist als meine.


FAZIT

GETRIEBEN ist das Portrait eines rastlosen Mannes, es ist die Gier nach der Fülle des Lebens. Ich könnte Altmanns Buch nicht besser zusammenfassen als er es mit einem Zitat von André Gide selbst sagte: "Ich will dabei sein, und koste es das Leben".

Wertung: entfällt, da ich mir nicht anmaße, die intimen Gedanken eines Menschen zu beurteilen, gleich in welcher Form sie dargeboten werden.

SaschaSalamander 30.10.2012, 09.17 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

Blind Date mit dem Leben

kahawatte_blinddate_1.jpgVOR DEM LESEN

Ich weiß nicht mehr, wodurch ich auf das Buch MEIN BLIND DATE MIT DEM LEBEN von Saliya Kahawatte aufmerksam wurde. Da er aber buddhistisch orientiert ist, vermute ich, dass ich irgendwo in einer meiner Zeitschriften oder in einem Buch darauf gestoßen bin. Jedenfalls bin ich froh, über dieses Buch gestolpert zu sein, es hat mich sehr bewegt und bereichert. Und noch vor dem Lesen habe ich mit Freunden bereits darüber diskutiert. Erzählte ihnen vom Buch, und wir kamen ins Gespräch "ja, warum hat er das keinem gesagt" oder auch "wie ist das denn möglich, so etwas geht gar nicht", und so ergaben sich schon vor der Lektüre viele Fragen, sodass ich umso gespannter wurde, wer dieser Mensch ist und was ihn antrieb.

Vorab zum Inhalt: Als Spoiler empfinde ich es hier nicht, was ich schreiben werde, denn auch auf seiner Homepage, in Fernsehberichten etc hat man schon einiges über ihn gehört bzw kann viel über ihn finden. Eine Biographie bzw einen Erfahrungsbericht kann man meiner Ansicht nicht spoilern. Wer anderer Ansicht ist, der sollte den Abschnitt "Lebenslauf" bitte überspringen und erst bei "Aufbau" weiterlesen. Wer mehr über den Autor wissen möchte: >Seine Homepage<, >sein Blog<, seine Firma >minusVisus< und ein Interview in >Zibb<.


LEBENSLAUF

Was er beschreibt, ist sein Leben. Und einige Male musste ich innehalten und es auf mich wirken lassen. Sähe ich einen fiktionalen Film, würde ich den Drehbuchautoren ersteinmal mäßigen: "das ist zu viel, das kauft Dir keiner ab, bleib mal auf dem Teppich und sei realistisch". Aufgewachsen als Kind eines singhalesischen Adels, um die gesamte Welt gereist, er speiste im Dschungel, er erlebte auf dem Gut seiner Familie arbeitende Kinder, bereiste ferne Länder, er hat bis zu seinem 15ten Lebensjahr mehr gesehen als mancher Mensch in seinem ganzen Leben. Dann der Beginn der Netzhautablösung, vom Vater fallengelassen, Trennung der Eltern und vom reichen Sohn plötzlich zum Jugendlichen ohne jegliche finanzielle Unterstützung auf Sozialhilfe, ohne Hoffnung, doch er strebt ein normales Leben an, boxt sich durch, verheimlicht seine Krankheit, belügt seine Freunde ebenso wie seinen Arbeitgeber und die Kollegen, macht eine Lehre, ja eröffnet sogar nebenher bald ein eigenes Restaurant. Und dann die Diagnose Krebs, Chemotherapie, er springt dem Tod von der Schippe. Doch die Lügen, die Mehrfachbelastung durch Arbeit, eigenes Restaurant, Krankheit fordern Tribut, und es folgen Drogen, Alkohol, Medikamentenmissbrauch. Und dann aufgrund der Chemotherapie ein Hüftleiden, OP, künstliches Hüftgelenk, reguläres Arbeiten ist nicht mehr möglich, es ist die Zeit gekommen, die Lügen zu beenden, doch vom Amt hagelt es nur niederschmetternde Aussagen: "nicht auf dem normalen Arbeitsmarkt", "behindert", "Einrichtung". Das will er nicht akzeptieren, bewirbt sich an einer Uni, scheitert, es folgt ein Suizidversuch. Später wendet er sich an die Presse, nimmt den Studiengang wieder auf, bis er dann eines Tages angesprochen und um Coaching gebeten wird, was nun sein neues Arbeitsfeld ist. Nein, für ein Drehbuch zu unrealistisch. Doch das Leben hält sich nicht an Drehbücher, und nur so sind Lebensläufe wie der von Saliya Kahawatte möglich.


AUFBAU

Das Buch liest sich in seinem Stil sehr flott und ebenso spannend wie ein Roman. Der Autor hat es strikt gegliedert in verschiedene Abschnitte seines Lebens. Dabei geht jedem Kapitel eine Betrachtung der Gegenwart voraus, in der er von seinem jetzigen Leben schreibt sowie seine heutige Sichtweise des damaligen Geschehens. Es folgen ein, zwei Abschnitte aus der Vergangenheit, klar nach Jahreszahlen und Lebensereignissen geordnet. Dann das nächste Kapitel. Ein strikter, klar geregelter Aufbau, so wie auch sein Leben und Tagesablauf heute geordnet und gut geplant ist. Die Worte für die Kapitelüberschriften sind klar, direkt, energisch. Er beschreibt im Laufe des Buches, warum er so klar reglementiert in seinem Leben vorgeht, ich finde es gut beschrieben und nachvollziehbar, es ist das was er braucht. Und, offen gesagt, mir ist das sympathisch, er hat seine Grundsätze nicht einfach aus dem Ärmel geschüttelt, sondern er hat sie sich erarbeitet und lebt nun danach, er weiß was er will und braucht. Noch vor dem Lesen fiel mir das sehr deutlich auf, und dieses Selbstbewusstsein zieht sich durch das gesamte Buch.


ERZÄHLWEISE

Was mich unglaublich fasziniert ist die bildreiche, lebendige Erzählung des Autors. Mag er auch selbst nicht mehr sehen können, so erzeugt er beim Gegenüber dafür umso klarere Bilder. Seine Schilderung beispielsweise vom Urlaub bei der "Dschungeloma", die Besuche bei seinem Freund Thuya, alles war so farbenreich wie ein 3D-Film. Die Rituale im Tempel, die Pilgerreisen, das Schlafen auf den Strohmatten, das Essen im Dschungel und die Besonderheiten des "Geschirrs" und "Abwaschs", ich meinte im Tempel die Räucherstäbchen zu riechen und vor mir spazierten greifbar die Elefanten bei der Hochzeit. Kahawatte hat ein sehr gutes Gespür für die Wirkung seiner Worte, sie wirken charismatisch und fesselnd. Auch die Beschreibung, wie er das erste Mal bei einem Coaching etwas versuchte greifbar zu machen und darzustellen, war sehr anschaulich. Selbst habe ich ihn nicht erlebt, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Menschen an seinen Lippen hängen, wenn er spricht.

In seiner Schilderung ist er stets klar und direkt. Er schmückt das Gesagte aus, verschwendet aber keine unnötigen Worte, verliert sich nicht in belanglosen Schilderungen. Er kommt sofort zum Punkt und reduziert seine Aussagen auf das Wesentliche. Am Text erkenne ich einen Menschen, der zielstrebig seinen Weg geht und sehr viel reflektiert. Er beschönigt auch nichts, steht klar zu dem, was er getan hat, beschreibt sich auf S. 69 sogar selbst als "armselige, heruntergekommene Gestalt". Er sucht keine Entschuldigung, heute ist er aufrecht und sich seiner selbst bewusst.


DER MENSCH HINTER DEM TEXT

Anfangs war ich erstaunt, wie es das möglich ist: ein solch reflektierter, durch und durch reifer Text. Und dann ein solch unreifes Verhalten. Warum all diese Lügen? Ich konnte verstehen, dass er nicht als behindert gelten wollte, dass er kein Mitleid wollte. Doch warum sich selbst so viele Dinge erschweren, wo es doch so viele hilfreiche Möglichkeiten gibt, die sehbehinderten Menschen den Alltag erleichtern? Warum sogar in einer Beziehung monatelang die Partnerin belügen? Das war für mich der Punkt, der einen Teil der Spannung ausmachte, denn ich fragte mich, ob und wann der Knackpunkt kommen würde, der diesen für mich nicht erklärbaren Widerspruch auflöste. Und hier möchte ich tatsächlich nicht spoilern, denn die "Auflösung" kommt. Wann und warum er lernte, die Dinge anders zu betrachten, wann er diese Hilfe (z.B. PC mit spezieller Software, Monitor zum Lesen von Texten) entdeckte und wann er begann, sich selbst zu reflektieren. Als es soweit war, hatte ich eine Gänsehaut, ich spürte, was das für ihn bedeutet haben mochte und welch großen Schritt er in dieser Phase seines Lebens gegangen war, welche inneren Hürden er überwunden hatte.

Trotz der vielen Schicksalsschläge in seinem jungen Alter spürt man auf jeder Seite die Lebensfreude und die unglaubliche Power, die er jetzt ausstrahlt. Sein Lebenslauf ist keinesfalls Maßstab für die Allgemeinheit, denn so viel Ehrgeiz, Durchhaltevermögen und Energie haben nur wenige Menschen. Viele seiner Erkenntnisse und jetzigen Weisheiten hat er sich erarbeitet, doch die Kraft, die ihn dazu brachte, es überhaupt erst durchzuziehen, die hatte er schon von Kind an, eine starke Persönlichkeit, wie er sich selbst schilderte. Doch auch, wenn nicht jeder seine Probleme wie er sosehr in Gutes wandeln kann - seine Biographie ist Inspiration, sie macht Mut und zeigt, dass ein Mensch auch am tiefsten Punkt seines Lebens aufstehen und das Beste aus sich herausholen kann.

Er hatte viele Helfer, zu Beginn seine Schwester und Mutter, die mit ihm lernten und ihm den Schulabschluss ermöglichten. Später enge Freunde und Weggefährten, mit deren Hilfe er die Ausbildung bestehen konnte, die ihn hier und da durch Prüfungen manövrierten und ihm hinter den Kulissen gelegentlich zur Hand gingen. Nur so gelang es ihm, eine normale Ausbildung im Gastronomiebereich zu absolvieren, ja sogar fast zum Leiter aufzusteigen, später ein eigenes Restaurant zu führen, in einem angesehenen Hotel zu arbeiten, einen riesigen Weinnkeller mit über 200 Sorten zu betreuen. Ihm wurde später bewusst, wieviel er diesen Menschen abverlangte, und seine Schlussworte mit dem Dank an seine engsten Freunde empfand ich als sehr bewegend, sie zeigten die tiefe Dankbarkeit hinter den Worten, es waren keine Phrasen, nicht die sonst üblichen Danksagungen am Ende eines Buches.


GESELLSCHAFTLICHE SITUATION

Sehr gut schildert er - nicht mit dem Holzhammer, eher nebenbei, wenn es sich in der Erzählstruktur ergibt - von der momentanen Situation sehbehinderter Menschen. Ein großes Problem sieht er in der Trennung von Behinderung und "normalem" Leben, von der Verortung des Problems in Einrichtungen. Gesunde Menschen, abgeschoben in eine eigene Welt, ohne die regulären Berufsmöglichkeiten, das ist etwas, das er nicht akzeptieren kann. Und ich muss ihm rechtgeben, denn es gäbe sehr viele barrierefreie Möglichkeiten im Alltag, die noch immer ungenutzt sind, einfach weil ... nun ja, ein sehr komplexes Thema, das hier den Rahmen sprengt. Ein Thema, mit dem ich mich beruflich wie auch privat schon häufig auseinandergesetzt habe und das noch sehr viel Handlungsbedarf in der Gesellschaft erfordert. Er bietet hier einige Denkanstöße. Geht stellenweise recht forsch vor, und was er verlangt ist teilweise etwas sehr hoch gegriffen, doch um das Mögliche zu erreichen, muss man das Unmögliche einfordern, und vielleicht wird eines Tages sogar das Unmögliche möglich, denn nur so ist eine vollständige Integration ohne Grenzen erreicht. Kahawatte hat sich noch einige Ziele gesteckt, und ich wünsche ihm von Herzen alles Gute für das, was er sowohl persönlich als auch gesellschaftlich noch alles vorhat :-)


FAZIT

Inspirierend und bereichernd. Ein Buch, dem ich unzählige Leser und einen großen Erfolg wünsche.

Wertung: Biographien, Lebensläufe und Erfahrungen erhalten von mir keine Wertung, das wäre vermessen ;-)

SaschaSalamander 31.08.2012, 15.05 | (0/0) Kommentare | PL

Kämpfe für Dein Leben

graf_kaempfe_1.jpgAUTOREN GRAF UND HIMMELRATH

>Charly Graf< wurde 1951 in Mannheim geboren und wuchs als uneheliches Kind eines US-Soldaten und seiner alleinerziehenden Mutter auf. Von Beginn an war sein Leben geprägt von Ausgrenzung, Gewalterfahrung und Angst, er lernte im wahren Sinne des Wortes "sich durchzuboxen" und auf diese Weise Anerkennung zu gewinnen. Schnell wurde er von profitgierigen Trainern verheizt, rutschte ab in die Kriminalität, rappelte sich wieder auf, stürzte erneut, sein Leben eine einzige Achterbahnfahrt.

>Armin Himmelrath<, Jahrgang 1967, studierte Sozialwissenschaft und Germanistik, arbeitet unter anderem als freier Journalist und erarbeitete nun gemeinsam mit Charly Graf dessen Biographie.


AUFBAU, SPRACHE

Das Buch steigt ein mit einem Ausschnitt aus Grafs aktueller Arbeit mit Kindern, wirft den Leser mitten hinein. Erst danach beginnt die eigentliche Biographie und geht voran bis in die Gegenwart. Ein sehr schöner Rahmen, durch den KÄMPFE FÜR DEIN LEBEN an Struktur gewinnt und die spannende Frage aufwirkt, welche Schritte ihn von damals bis nach heute führten. Während ich bei Biographien auch schon eine recht chaotische Schilderung erleben musste, ist dieses Buch dagegen klar chronologisch aufgebaut. Durch sein ereignisreiches Leben enthält KÄMPFE FÜR DEIN LEBEN sogar einen Spannungsbogen, was in diesem Genre ungewöhnlich ist. Wer bisher nichts von Charly Graf wusste, bekommt eine Geschichte geboten, die kein Autor besser hätte erfinden können. Doch auch für Freunde des Boxsports ist das Buch spannend, es bietet Einblicke in die Welt hinter dem Profiboxer, hinter die Kulissen des Sports.

Dem Schreibstil ist leicht zu folgen, Graf und Himmelrath spielen sich gegenseitig gekonnt den Ball zu. Graf erzählt aus seinem Leben, schildert seine Eindrücke und seine Sicht. Himmelrath (seine Texte heben sich kursiv von denen des Boxers ab) schildert dagegen sachlich die offizielle Seite: wie nahmen die Medien diese einzelnen Stationen wahr. Dadurch bildet sich ein interessanter Kontrast aus dem inneren Erleben und der äußeren Darstellung; sehr gut wird deutlich, wie leicht die Presse einen Sportler nach oben pushen, ihn jedoch auch stürzen kann. Es ist bedrückend zu lesen, wiesehr diese Berichterstattung Graf bedrückte, seinen Lebensweg dadurch auch beeinflusste.

Obgleich Himmelrath Graf unter die Arme griff, mit ihm bzw für ihn schrieb, ist dennoch ein deutlicher Unterschied zwischen der Ich-Erzählung des Boxers und der Schilderung des Journalisten zu erkennen. Grafs Anteil enthält eine deutlich einfachere Sprache, kommt ohne Fachbegriffe aus (erfreulicherweise auch ohne Fachbegriffe des Boxsports, was für Leser wie mich ideal ist), driftet niemals ins Umgangssprachliche, lässt aber dennoch seinen eigenen Stil erkennen.


CHARLY GRAFS LEBEN

Graf berichtet schnörkellos und direkt. Er beschönigt nichts, er verlangt kein Mitleid, kein Verständnis. Er entschuldigt sich auch nicht, schreibt ohne Reue. Sondern er nimmt die Dinge so an, wie sie waren. Er kommt aus der untersten Gesellschaftsschicht, erlebte Diskriminierung, Ausgrenzung. Er klagt niemanden an, obwohl er allen Grund dazu hätte. Die Frankfurter Rundschau schrieb 1971 von seinem "gefährlichen Hang zum Halbwelt-Milieu" und seiner "Trainingsfaulheit", rückblickend meint Graf "damals fand ich, dass die Einschätzung eine bodenlose Frechheit war. Heute weiß ich, da war was Wahres dran".

Bewegt hat mich insbesondere, wie er ohne Scham von seinen Ängsten berichtet. Er wurde von den Liebhabern seiner Mutter geschlagen, einmal sogar hatte er solche Angst vor ihrem Geliebten, dass er die Mutter und den ihm fremden Mann nicht in die Wohnung ließ. Seine Mutter drohte ihm an, dass sie sich unter den Zug legen würde, wenn er die Tür nicht öffnete. Dann ging sie und kam nicht wieder, er suchte sie stundenlang an den Gleisen, bis sie später erst nach Hause kam. Eine kleine Episode, die keiner weiteren Worte bedarf und nichts rechtfertigt, nichts entschuldigt aber Vieles erklärt.


ACHTERBAHN

Geschlagen von den Liebhabern der Mutter, verheizt von egoistischen Trainern, Anerkennung erlebt im Rotlichtmilieu, musste er ins Gefängnis. Nachdem er eine Meuterei anzettelte, wurde er nach Stammheim verlegt, ein Hochsicherheitsgefängnis, wo auch der RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock inhaftiert war. Zwei Menschen, so verschieden wie zwei Menschen nur sein können. Graf trainiert Boocks Körper, und Boock gelingt, was kein Sozialarbeiter bisher vermochte: er zeigt ihm auf, wie wichtig es ist, nicht den Körper sondern auch den Geist zu trainieren. Bildung ist wahre Freiheit, und so beginnt der Boxer zu lesen, von Dostojewski über Faulkner und Hesse.

Doch der Stempel leuchtet auf seiner Stirn: Neger, uneheliches Kind, Benz-Baracken, Zuhälter, Krimineller, Unterschichtler. Es ist faszinierend, auf welch unrechte aber dennoch clevere Weise er dagegen ankämpfte, sich die Möglichkeit erschlicht, aus dem Gefängnis heraus zu trainieren und dann sogar einen Boxkampf zu initiieren. Ein Ding der Unmöglichkeit, doch es gelang ihm, und sosehr ich den Kopf schüttle über die Unverfrorenheit und die Lüge, sosehr bewundere ich insgeheim den Wagemut und die Dreistigkeit dieses Unterfangens. Es ist teilweise absurd zu lesen, mit welchen Mitteln er die Zeit im Gefängnis verbrachte, wie er Dinge zu seinem VOrteil drehte und andere für sich arbeiten ließ. Da wird ein Bordell schnell mal als Hotel deklariert, und ein Inhaftierter sitzt an der Seite des Gefängnisdirektors und trifft Entscheidungen über andere Mitgefangene. Wäre es ein Roman, so würde man ihn abstrafen als unrealistisch, an den Haaren herbeigezogen und völlig hanebüchen, doch was Graf schreibt, ist wahr, und es ist kaum zu glauben.


ARBEIT MIT KINDERN

Charly Graf ist auf jeden Fall ein Sympathieträger, und dieses Charisma ist im Buch deutlich zu spüren. Indem er sich selbst nicht schont, kommt er an Kinder heran, die von Lehrern und Sozialpädagogen bereits aufgegeben wurden. Er versteht die Ängste der Kinder, wie es andere Erwachsene nicht können. Sie fassen vertrauen zu dem Mann, der ohne Scham von seiner eigenen Angst erzählt und davon, dass Gewalt und Kriminalität lediglich Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit darstellen. In der Talkshow des NDR sagt er "Aggressivität kommt von Lebensängsten". Um die Aggressivität abzubauen hilft also nicht die "Sozialpädagogenscheiße" (wie er es drastisch in seinem Buch formuliert, was mich schmunzeln ließ. So ungern ich es zugebe, aber als Sozialpädagoge muss ich ihm dennoch zustimmen), sondern die Bewältigung dieser Ängste. Sein Boxtraining ist mehr als nur ein schlagender Sport, es ist ein Wegweiser zu selbstbestimmtem Denken und Handeln, zu einem Leben in Freiheit ohne Angst.

Wäre KÄMPFE FÜR DEIN LEBEN ein Roman, so müsste ich ihm bescheinigen, dass dem Autor eine herausragende Charakterentwicklung voller Intensität und Komplexität gelungen ist. Da es eine Biographie ist, neige ich mein Haupt vor Charly Graf und zolle ihm meinen Respekt. Einmal dafür, wie er vom kriminellen Underdog den Schritt in ein neues Leben wagte, das dennoch geprägt ist von Enttäuschung, Einsamkeit und Armut, aber erfüllt von Stolz und Selbstbewusstsein. Aber vor allem dafür, dass er diese Erfahrungen nun weitergibt an Kinder, die in ihm ein Vorbild sehen. An Kinder, die durch ihn nun eine neue Chance bekommen.

Graf erzählt in knappen Sätzen von einzelnen Kindern, deren Lebenslauf schrecklich ist. "Es gibt Biographien, da habe ich keine Antwort". Wenn auch nur einem dieser Kinder geholfen werden kann, hat er ein Wunder gewirkt, und einige Male ist es ihm bereits gelungen.


FAZIT

KÄMPFE FÜR DEIN LEBEN ist ein Buch, das jeder Leser anders wahrnehmen wird. Biographie eines Sportlers. Das Märchen vom Underdog zum Helden. Die Zeit in Stammheim und die Begegnung mit Broock. Die Kriminalität im Rotlichtmilieu und der Ausstieg aus der Szene. Oder einfach nur ein packender Lebenslauf. Doch egal, aus welchem Grund man das Buch liest - es lässt niemanden kalt.

SaschaSalamander 28.06.2012, 09.09 | (0/0) Kommentare | PL

Eine besondere Perle

Ein ganz besonderes Buch möchte ich Euch in den nächsten Tagen vorstellen. Ein Buch, das mich wirklich bewegt und überwältigt hat, nachdem ich anfangs eher zögerlich heranging: KÄMPFE FÜR DEIN LEBEN von >Charly Graf< und Armin Himmelrath.

Biographien lese ich eher selten, viele sind recht trocken. Und die Leute, die mich interessieren, schreiben eh keine. Und dann noch die Biographie eines Sportlers? Zweimal nein! Eines Boxers? Dreimal nein!

Aber dieser Boxer war lange Zeit inhaftiert, und inzwischen arbeitet er mit verhaltensauffälligen Kindern. Zwei Themen, die für mich dann doch interessant sind, erst recht in dieser Kombination. Wie kam es, dass er sosehr abrutschte, was hielt ihn aufrecht, wie kam er wieder nach oben? Und mit welcher Einstellung trainiert er die Kinder, was kann er ihnen auf den Weg mitgeben? Ich warf also trotz meiner Bedenken einen Blick in das Buch und war überwältigt.  Charlys Leben ist weit spannender, als jeder fiktive Roman es sein könnte! Seine Biographie wäre die perfekte Vorlage für einen Spielfilm im Stil von MILLION DOLLAR BABY und ähnliche des Genres, doch Charlys Geschichte ist wahr.

Am 12. Juni war die Erstausstrahlung der Doku CHARLY GRAF - EIN DEUTSCHER BOXER, am 4. August wird sie um 22.45 im NDR wiederholt. >Hier< kann man sich über den Film informieren. In einer >NDR-Talkshow< erzählt er einzelne Etappen seines Lebens, in der Sendung >DAS< war er ebenfalls zu Gast, bei den angegebenen Links kann man das jeweilige Video streamen. Ich empfehle unbedingt den Film am 4. August, denn das Buch ist sehr spannend, dennoch liest man nur von Charly (als Ich-Erzähler) und Armin (als Beobachter), im Film dagegen kommen z.B. auch Peter-Jürgen Boock (ehem. RAF-Terrorist, der ihm im Gefängnis ein guter Freund wurde), Thomas Classen (sein letzter Gegner im Ring, der ihm den Titel - zu Unrecht? - abrang), ein Ex-Promoter und viele andere zu Wort. Unbedingt sehenswert! :-)


SaschaSalamander 25.06.2012, 15.00 | (0/0) Kommentare | PL

110 - ein Bulle hört zu

gutenrath_bulle_1.jpgLesen werde ich das Buch komplett, denn die Geschichten selbst sind interessant. Trotzdem werde ich weiterhin gelegentlich das Gesicht verziehen, weil es ein paar Dinge gibt, mit denen ich nicht klarkomme. Ich kann verstehen, dass jemand gereizt ist, wenn der zigste Telefonanruf noch immer kein Notruf ist sondern irgendein lästiger Kleingeist ist, der mit einer Lapalie kommt. Dennoch ist das kein Grund, zu sticheln, sarkastische Bemerkungen zu bringen oder abfällige Kommentare fallenzulassen.

Vielleicht ist die norddeutsche Sprache rauer, und ich verweichlichter Franke finde das unhöflich. Vielleicht würde sich der gleiche Text im Hörbuch von einem Sprecher vorgetragen gar nicht so herablassend anhören. Oder vielleicht ist er einfach tatsächlich unhöflich, und andere finden ihn ebenso lustig, wie sie sich auch im TV über unflätige Sprüche in Talkshows amüsieren.

Ein paar Beispiele:

"Ich weiß, wo das Bernsteinzimmer ist"
"Na, dann sind wir schon zwei" hau ich raus und hab damit den erwarteten Erfolg: RUHE.
Als der Anrufer sich etwas gesammelt hat, stammelt er: "Wie ... was?"
"Is ´ne Disco in Tempelhof" stelle ich nüchtern fest. "Ü 30 und so. Ich fürchte, wir zwei haben sogar noch ein paar Mitwisser."

"Ich bin die Coco"
"Und wie weiter? Chanel?" stichele ich ein wenig.

"Notruf der Berliner Polizei, Gutenrath, guten Tag".
"Bulthaupt mein Name, Doktor Bulthaupt!"
"Herr Doktor ..."
"Warum betonen Sie das so merkwürdig?"
"Hab ich gar nicht."
"Haben Sie sehr wohl."
"Nein. Ich dachte nur, wenn Sie es so hervorheben, freuen Sie sich vielleicht, wenn Sie es noch einmal hören."
"Seien Sie nicht so spitzfindig. Ich warne Sie!"
"Gut, ich bin ab jetzt besonders vorsichtig."

Diese Dialoge finden jeweils statt, bevor der Ich-Erzähler überhaupt weiß, was das Anliegen der Person ist. Gut, zugegeben, das Bernsteinzimmer wird der betreffende Herr kaum gefunden haben, und "Coco" mag ja nach einer Transfrau klingen, und Herr Doktor Bulthaupt mag ja tatsächlich Wert auf seinen Titel legen, aber gibt dem Polizisten das irgendein Recht auf Herablassung?

Wie gesagt, sehr oft lese ich, wie begeistert die Leute von seinem lockeren Tonfall sind und wie lustig sie das Buch finden. Und viele können nachvollziehen, dass man bei so vielen Querulanten, Vollpfosten und Hirnis an der Strippe irgendwann nicht mehr nur freundlich ist, sondern auch mal eine blöde Antwort auf eine blöde Frage gibt. Trotzdem - wenn jemand beim Notruf anruft und ein echtes Problem hat, wünsche ich ihm, dass er einen Beamten erwischt, der gerade gute Laune hat und nicht sofort stichelt, bagatellisiert und beleidigt, falls der Anrufer sein Anliegen ungünstig formuliert ...

SaschaSalamander 25.05.2012, 08.50 | (0/0) Kommentare | PL

Freigang - warum es sich unter allen Umständen lohnt, Buddhist zu sein

malone_freigang_1.jpgAUTOR, HINTERGRÜNDE DES BUCHES

Calvin Malone wurde 1951 in Deutschland als Sohn einer deutschen Mutter und eines amerikanischen Vaters geboren. 1992 kam er für Körperverletzung ins Gefängnis, wo er derzeit noch inhaftiert ist und bereits verschiedene "prisons" und "correction centers" durchlaufen hat. In diesem Buch schildert er, wie er während seiner Haft mit dem Buddhismus in Berührung kam, wie dieser ihn veränderte und wie er ihn nun lebt. In einem Umfeld, das sosehr von Gewalt, Ablenkung geprägt ist und scheinbar so wenig Raum lässt für Meditation und sanftmütiges Wesen. Doch Malone beweist dem Leser, dass gerade hier Großes gewirkt werden kann durch kleine Gesten, liebevolle Worte und das rechte Maß an Zurückhaltung.


GENRE

FREIGANG ist kein Lehrbuch über Buddhismus. Zwar gibt es im Anschluss an seine Erlebnisse auch eine kurze Erklärung sowie ein paar Anregungen zur Meditation in diesem besonderen Umfeld, doch dies ist nicht Kern des Buches. Inhalt ist vielmehr das Erleben seines Alltages sowie die praktische Umsetzung und Anwendung. Auch werden seine Geschichten nicht chronologisch erzählt, denn Ziel ist nicht die Wegbeschreibung der "Wandlung". Als Ziel des Buches empfand ich die Beschreibung seiner Erlebnisse, um auf diese Weise andere Menschen an den Auswirkungen seiner Religion teilhaben zu lassen. Dies ist bewegend und glaubwürdig gelungen.


RELIGIONSÜBERGREIFEND

Das Schöne finde ich unter anderem auch, dass der Leser nicht von einer blinkenden Werbekeule erschlagen wird. Den Untertitel "warum es sich unter allen Umständen lohnt, Buddhist zu sein" könnte Problemlos ersetzt werden durch "Christ", "Jude", "Moslem", "Hindu", "Taoist" oder oder oder ersetzt werden. Denn was Malone praktiziert, das ist Nächstenliebe und Achtsamkeit, die in allen Religionen gelehrt wird. Dadurch erreicht der Autor, dass die Leser nicht mit fremden Philosophien erschlagen werden oder zu etwas bekehrt werden, sondern er - um es christlich zu sagen - "legt Zeugnis ab". Und dies ist die beste Methode, wenn man anderen Menschen seine Überzeugung nahebringen möchte: unaufdringlich, geduldig, als Vorbild.


"WAS KANN ICH ALLEINE SCHON BEWIRKEN"

Der Strafvollzug ist ein eigener Mikrokosmos, den ein Außenstehender sich oft nicht vorzustellen vermag. Es gelingt Malone sehr gut, dem Leser einen Einblick in den amerikanischen Gefängnisalltag zu vermitteln. Und diesen zwar knallhart und direkt zu präsentieren, dabei aber auch die Chancen aufzuzeigen, die sich für ihn daraus ergeben.

Zu den Geschichten selbst: der Autor beschreibt verschiedene Situationen, in denen ihn unangenehme Menschen herausforderten und wie er mit dieser Herausforderung umging. Er macht Menschen, die ihm Probleme bereiten, zu Lehrern, denn sie zeigen ihm seine Schwächen und helfen ihm diese aufzulösen. Man denkt sich oft "ach, was soll ich schon ausrichten" oder "ist doch nur eine Kleinigkeit, nur ein Moment". Wie oft schon hat jeder von uns gesagt "nein, wenn der mir immer so blöd kommt, den lade ich bestimmt nicht ein / den lächle ich bestimmt nicht an / dem werd ich was erzählen". Hier wird wunderschön beschrieben, wie auch ein winziger Moment große Auwirkungen haben kann und warum es sehr wohl von Bedeutung ist, ob ich lächle oder schimpfe, ob ich mich vom Zorn davontragen lasse oder dem anderen vergebe.

Einzelne Geschichten komplett wiederzugeben ist im Rahmen der Rezension nicht möglich. Aber ein paar Schlüsselmomente, die dennoch keine Spoiler sind, möchte ich gerne nennen: Malone hört das Gespräch zweier Rassisten, einer von ihnen hat Hunger, und so bietet er ihm von seinem Essen an, egal ob sie zur gleichen Gruppierung gehören, denn Hunger kennt keine Nationalität. Ein Päckchen Suppe, eine kleine Geste, mit unglaublich bewegender Auswirkung. Er lädt einen Menschen zu seiner Weihnachtsfeier ein, den er eigentlich nicht mag, ohne zu erahnen, welche große Bedeutung dies für den Gast hat. Einem Insassen, der überall aneckt, gibt er etwas zur Aufbewahrung, dieser hintergeht ihn, und statt ihn zu strafen geht Malone freundlich auf ihn zu - was dazu führt, dass der andere ihn respektiert und Tage später ein tragisches Ereignis verhindert werden kann.

All diese kleinen Gesten sind Kleinigkeiten. Sie erfordern jedoch Mut, Respekt und Achtung vor dem anderen. Es sind Gesten, die jedem von uns möglich sind, niemand kann sich herausreden und sagen "was kann ich alleine schon bewirken". Denn Malone zeigt, wie hoch unsere Eigenverantwortlichkeit ist und wieviel zu bewegen uns tatsächlich in unserem Umfeld möglich ist.


KLEINE ANMERKUNG

Es ist unwichtig, führt zu keinerlei Punktabzug und geht im Textfluss unter. Dennoch würde ich für die nächste Auflage empfehlen, dass jemand das Buch noch einmal überarbeitet, speziell im Hinblick auf die dass / das - Problematik. Da schien es dieses Mal ein paar Verwechslungen zu geben ;-)

Schön finde ich übrigens auch den Titel, denn er zeigt auf, wie es möglich ist, trotz der Umstände innere Freiheit zu finden. Innere Freiheit sogar im Gefängnis, ein sehr schönes Bild, das die Auswirkungen der buddhistischen Praxis sehr schön erklärt.


FAZIT

FREIGANG ist ein bewegendes Buch, das religionsübergreifend gelesen werden kann und dazu motiviert, endlich selbst aktiv zu werden. Achte Deinen Nächsten, liebe Deine Feinde, denk nach bevor Du im Zorn etwas zerstörst. Und sei Dir bewusst, dass Du etwas bewirken kannst, egal ob auf Arbeit, in der Familie oder gar an kalten, gefährlichen Orten wie einem Gefängnis. Die Geschichten treffen ins Herz, Malone und seine Freunde, Lehrer und Mitinsassen bleiben dem Leser noch lange im Gedächtnis.

SaschaSalamander 24.05.2012, 12.00 | (0/0) Kommentare | PL

Knast

bausch_knast_1.jpgÜber den Autor möchte ich nicht viele Worte verlieren, außer: Er arbeitet seit fast 30 Jahren als Arzt in der JVA Werl, kann also in seinem Buch auf eine lange Erfahrung auf diesem Gebiet zurückblicken. Über seine Arbeit als Schauspieler sowie sein Privatleben kann man >bei Wikipedia< einiges erfahren.


AUFBAU

Die Kapitel in sich selbst sind übersichtlich, aber die Oberthemen sind bunt durcheinandergewürfelt. Das Thema "Arzt im Knast" ist aufgeteilt in I, II und II und immer wieder zwischen die anderen Kapitel eingestreut. Ansonsten ist alles recht durcheinander, der Alltag im Knast ist angesiedelt neben Erinnerungen an seine alte Heimat, die Typologie der Verbrecher findet sich neben den verschiedenen "Währungseinheiten". Von einem Spannungsaufbau kann, da es kein Roman ist, sondern sich um Erfahrungen handelt, weniger die Rede sein. Trotzdem ist ein gewisser Aufbau vorhanden: von beschaulichen Gedanken um Heimat und Bauernhof hin zum Eintritt ins Gefängnis, dem Alltag hinter der Mauer, die Menschen dort, nette Anekdoten und verzeinelte Fallbeispiele sowie die ersten Schritte als Gefängnisarzt, hin zu Themen wie Rechtsradikalismus, lebenslanger Haftstrafe, Tod und Sterben.


SPRACHE

Der Autor schreibt eingängig und flüssig, das Buch lässt sich flink lesen. Er redet nicht um den heißen Brei und nennt die Dinge beim Namen. Dadurch wirkt es in meinen Augen weder authentisch noch künstlich, es ist einfach sein Stil. Obwohl er Mediziner ist, verzichtet er auf einen gestelzten Fachterminus. Er beschreibt verschiedene Begriffe, die Außenstehenden erklärt werden müssen. So etwa das "Pendeln" von einem Fenster zum anderen, 200 g Kaffe im Glas als "Bombe", andere Leute zu verraten nennt sich "zinken".


RITUALE, KNASTALLTAG

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er Begriffe und Rituale benennt, die wohl regional zu sein scheinen, etwa "jemandem eine Lampe bauen" oder das pflichtmäßige Händeschütteln der Kollegen untereinander. Aber gut, er kann nur schreiben, was er kennt, und zwei Anstalten an zwei unterschiedlichen Orten sind ebenso verschieden wie die Abteilungen Männer, Frauen, Jugend oder gar Kurz- und Langstrafen. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt des Knastalltages, den er präsentieren kann, aber dies gelingt ihm spannend und aufschlussreich.

Er schreibt typische Merkmale, die ihm als Mitarbeiter sofort auffallen. Etwa der typische, markante Knastgeruch. Die Bedeutung eigener Kleidung für die Inhaftierten. Die Vor- und Nachteile von Einzel- und Gemeinschaftszelle. Er beschreibt, welche Bedeutung das Schließen hat: Umschluss, Aufschluss, Durchschluss, Einschluss, Nachtschluss, Vorschließen, Zuschluss. Nirgendwo anders finden sich so viele Worte allein für den Einsatz eines einfachen Schlüssels.

Das Gefängnis ist ein eigener Mikrokosmos, eine Welt für sich. Wer neu ist, sei es als Mitarbeiter oder Gefangener, wird als Nichtschwimmer ins eiskalte Wasser geworfen. Es heißt Schwimmen lernen oder untergehen. Dies beschreibt er anhand vieler Beispiele sehr anschaulich.


SEINE ROLLE ALS MEDIZINER

Bausch erzählt aus Sicht des Mediziners. Dabei bleibt er erfreulich locker, der Leser wird nicht mit medizinischen Fakten bombadiert. Seine Rolle als Mediziner nimmt er sehr ernst, und er sieht in den Gefangenen keine Mörder oder Vergewaltiger, sondern Menschen, die seiner Hilfe bedürfen. Das freut mich, das ist nicht selbstverständlich. Allerdings amüsiert mich ein wenig, dass jeder für sich wohl seinen Job als den wichtigsten ansieht, so auch er. Wenn man das Buch als Außenstehender liest, kommt man zu dem Schluss, dass die Aufgabe des Arztes die wichtigste und verantwortungsvollste ist. Der Arzt als absolute Vertrauensperson, der mehr über das Leben der Gefangenen erfährt als alle anderen Mitarbeiter zusammen und mehr Entscheidungsgewalt hat als alle anderen. Andere Berufe innerhalb der Gitter werden lediglich am Rande erwähnt: Seelsorge, Psychologen, Sozialarbeiter, Justizvollzugsbeamten, Drogenberatung, Ehrenamtliche. Ich kann mir vorstellen, dass einige seiner Kollegen sich dadurch auf den Schlips getreten und sehr stark reduziert fühlen könnten.

Was ich ihm aber hoch anrechnen möchte: er gibt auch zu, dass die Arbeit häufig belastend ist. Er beschönigt es nicht und gesteht sich eigene Schwächen ein. Beschreibt, dass die zusätzliche Aufgabe als Schauspieler ihm eine Abwechslung bietet, ohne die es ihm wesentlich schwerer fiele, immer wieder mit den Themen des Vollzuges konfrontiert zu werden. Er schreibt von den vielen Beschwerden, die er bereits erhielt. Und davon, wie er ausgetestet und auch hinters Licht geführt wurde. Wie die Arbeit seinen Alltag beeinflusst, indem etwa Telefonterror betrieben und seine Familie bedroht wurde. So humorvoll und locker er in anderen Momenten schreibt, so erkennt man besonders in diesen Abschnitten, dass die Arbeit im Knast kein Zuckerschlecken ist, der "sichere Job des Beamten" mit vielen Nachteilen verbunden ist, an denen auch schon einige zerbrochen sind.


SONSTIGES

Er bringt immer wieder Verbesserungsvorschläge und kritisiert einzelne Aspekte des Vollzuges. Auch beschreibt er, wie viele Dinge sich verbessert haben. Durch seine langjährige Berufserfahrung hat er eine Menge erlebt und kann aus erster Hand berichten, wie sich der Vollzug in den letzten Jahren verändert hat. Nicht alles, was er schreibt, muss man gutheißen, es ist eben ein Erfahrungsbericht, und dem Autor steht seine eigene Meinung zu. Diese vertritt er konsequent und deutlich, bleibt dabei jedoch fair und sachlich. Es ist zu wünschen, dass seine Forderungen Gehör finden.


Da das Buch KNAST heißt, empfinde ich einige Passagen als störend. Denn ehrlich gesagt bin ich Leser, kein Filmegucker, wusste bis vor ein paar Tagen gar nicht, dass er Schauspieler ist. Seine Beschreibungen verschiedener Filmrollen und Theatererfahrungen fand ich wenig spannend. Und auch sein Privatleben, seine Kindheit waren für mich nicht so interessant, ich wollte das Buch vor allem wegen des Themas Justizvollzug lesen. Aber gut, seine Erfahrungen prägen seine Arbeit, und viele Fans werden auch diese Bereiche interessant zu lesen finden. Das ist die Frage - hat er ein Buch über den Knast geschrieben, oder hat er eine Mischung aus Erfahrung, Schauspielerei und Vollzug verfasst? "Knast" klingt als Titel reißerischer, verkauft sich besser. Und bei einem Blick in die Leseprobe konnte ich sehen, dass er auch andere Aspekte beleuchtet, ich wusste also, was mich erwarten würde, darf mich im Nachhinein nicht beschweren ;-)

FAZIT

Das Buch liest sich angenehm, sowohl für Außenstehende als auch Insider. Der Autor bietet aufschlussreiche Informationen über eine Welt, in die nur die wenigsten Menschen Einblick erhalten. Wer sich für das Thema Justizvollzug interessiert, findet mit diesem Titel auf jeden Fall lesenswerte Lektüre und spannende Unterhaltung.

SaschaSalamander 16.04.2012, 08.57 | (0/0) Kommentare | PL

Wie ein Stein in mir

vandewijer_stein_1.jpgWARUM DIESES BUCH

An sich lese ich Bücher dieses Genres nicht gerne. Auch ohne, dass ein persönliches Schicksal mit dem dritten Reich verknüpft ist, finde ich das Thema sehr belastend. Ich lese da eher Fachbücher oder besuche Ausstellungen. Filme und Bücher, die in dieser Zeit spielen, finde ich schrecklich. Aber deswegen verschließe ich natürlich dennoch nicht die Augen und greife hier und da zu. In diesem Fall deshalb, weil ich die Person des Janusz Korczak schon immer sehr interessant fand. Auch lese ich gerne Bücher um Kinderschicksale, zum Beispiel von Torey L Hayden. Dieses Buch vereint mehrere Themen: das Schicksal eines traumatisierten Kindes, die Zeit des dritten Reiches 1942, die Pädagogik des Janusz Korczak. Ein Jugendbuch, aber aus genau diesen Gründen dennoch harte Kost, oh ja!

Die Rezension wurde sehr lang, denn in Rezensionen verarbeite ich gelegentlich auch Leseeindrücke. Dies ist hier der Fall: WIE EIN STEIN IN MIR ist ein Buch, das verarbeitet werden muss. Wem das zuviel ist, der kann gerne auf meine >Kurzfassung bei Amazon< zurückgreifen ;-)


INHALT

Esther ist 13 Jahre alt, als sie in das Waisenhaus Dom Sierot des Janusz Korczak gebracht wird. Was sie zuvor erlebte, ließ sie verstummen, kein Wort vermag sie mehr zu sprechen. Der Arzt, die Schwestern und die Kinder nehmen Esther herzlich in ihrer Mitte auf. Schritt für Schritt gewinnt Esther Vertrauen, lernt ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und sich in der Gruppe zu integrieren. Doch während im Dom Sierot die Welt Wärme und Liebe verspricht, tobt draußen der Krieg, und auch vor den Kindern wird er nicht innehalten ...


KEIN SPOILER

Ich habe lange überlegt, ob ich spoilern soll oder nicht. Aber ich empfinde es nicht als Spoiler. Denn, mal ehrlich: das Buch spielt im dritten Reich und handelt von realen Personen. Gut, Korczak ist vielen vielleicht nicht so bekannt wie meinetwegen Anne Frank oder andere Menschen, die im KZ verstarben. Dennoch ist er ein bedeutender Pädagoge, Autor sowie Namensgeber vieler Schulen und Straßen. Deswegen sehe ich es nicht als Spoiler, wenn ich im Laufe der Rezension Andeutungen über das schreckliche Ende des Buches mache. Ich spoilere auch nicht, wenn ich sage, dass ANNE FRANK am Ende stirbt oder dass in SCHINDLERS LISTE viele Juden den Tod finden. Und ebenso ist es hier bei WIE EIN STEIN IN MIR. Wer das Buch liest, der sollte wissen, was ihn erwartet. Ich habe das Tagebuch des Dr. Korczak noch nicht gelesen, daher weiß ich nicht, ob das Mädchen Esther eine fiktive Figur aus der Feder der Autorin Vandewijer ist, oder ob sie tatsächlich in seinen Aufzeichnungen vorkommt und das Buch somit eine dramatische Aufarbeitung der realen Ereignisse ist. Doch Esther hin oder her - das Buch behandelt reale Ereignisse und ist somit ein Stück Geschichte. Und Geschichte kann man nicht spoilern ;-)


CHARAKTERE

Die Charaktere des Buches berührten mein Herz. Obwohl alles aus Sicht Esthers geschrieben ist, werden sie doch sehr greifbar und lebendig. Der "alte Doktor" erzählt hier und da aus seiner Vergangenheit, berichtet was ihn bewegt und beschäftigt. Doch er ist mit Ausnahme von Esther die einzige Figur, über deren Leben man etwas erfährt. Der Leser erhält ein sehr gutes Bild über seine Pädagogik, seine Einstellung, seine Liebe zu den Kindern. Die Kinder des Waisenhauses werden nur von außen geschildert und bleiben somit im Hintergrund aber keineswegs blass. Sie alle erhalten Persönlichkeit, Vorlieben, sehr schnell kann der Leser sie alle auseinanderhalten. Den kleinen Geigenspieler, der Gärtner, die quirlige Plaudertasche, den in Esther verliebten Jungen und all die anderen Waisen. Der Leser erlebt sie so innig, dass sie während der Lektüre quasi zu Freunden werden. Und je mehr man sie lieb gewinnt, desto schwerer fällt es, umzublättern, desto größer wird der Kloß im Hals, wenn man sich dem Ende nähert.


AUFBAU

Das Buch besteht aus drei sich abwechselnden Einheiten: eine leere Seite mit einem Zitat von Korczak. Diesen entnimmt man Gedanken über Pädagogik, Kinder oder seine Einstellung zum Leben. Die Zitate sind sehr gut passend zum Buch gewählt. Dann gibt es Aus der Ich-Perspektive das Erleben von Esther. Sie beschreibt ihren Alltag, das Erleben der Umwelt, das Handeln der anderen. Hierin erfährt der Leser viel über das Leben im Heim sowie nach und nach immer mehr über die drohende Gefahr des Krieges. Und dann gibt es Esthers Tagebucheinträge. In diesen schreibt sie das täglich Erlebte aus ihrer Innensicht, hier schreibt sie ihre Gefühle und Gedanken nieder, die im Alltag keinen Platz finden. Die Kapitel sind in der Regel 2 bis 10 Seiten.

Die Bedrohung im Hintergrund ist stetig präsent. Korczak schützt die Kinder, sogut es ihm möglich ist, er hält die Welt von ihnen fern, vermittelt ihnen Liebe und Geborgenheit. Doch durch Esthers frühere Erlebnisse und durch einzelne Aktionen mit der Außenwelt (Verkauf von Büchern, ein Kind kommt zu spät nach Hause und erzählt von seiner Flucht vor den Kontrollen) erfährt der Leser immer wieder kurze, schreckliche Einzelheiten über das Voranschreiten des Krieges.

Anfangs interessiert es den Leser brennend, was nun mit Esther geschehen ist. Das ist ja schließlich eines der Hauptthemen des Buches. Doch je mehr die Handlung voranschreitet, desto unwichtiger wird es. Es ist egal, denn alle haben Schlimmes erlebt. Was nun immer mehr zählt, das ist wie es weitergeht. Obwohl man das Ende kennt, hofft man doch, dass die Kinder diesem Schicksal entgehen können. Es zählt nicht mehr, was Ester damals wiederfahren ist. Es ist nur wichtig, dass sie sich in die Gruppe eingliedert, Freunde findet, dass sie sich wohl fühlt, dass sie wieder Vertrauen fassen kann, dass sie die Schrecken ihrer Vergangenheit ablegt. Und je glücklicher sie wird, desto schrecklicher wird das Buch zu lesen, denn man weiß, dass ihr Glück nicht von Dauer sein wird. Das Buch endet vermeintlich glücklich, denn es ist aus Sicht von Esther erzählt. Der Doktor will die Kinder vor dem Schicksal schützen, und die Kleinen ahnen nicht, was ihnen droht. Und so erlebt Esther den schönsten Tag seit langer Zeit, hat endlich gefunden, was sie suchte, und sie geht strahlend in eine neue Zukunft. Es zerreißt dem Leser das Herz, die glückliche Wahrnehmung des Kindes gegenüber der grausamen Realität zu sehen ...


SPRACHE

Die Sprache ist schlicht gehalten und passt sehr gut zur Person der Esther. Kurze Sätze, selten ein Komma, der Satzbau sehr einfach. Oft nur Gedankenfetzen, die sich dem Leser zeigen. Doch trotz der knappen Worte vermag es die Autorin (bzw zugleich der Übersetzer), die Welt in melodische Bilder zu verpacken.

Ein Beispiel für die Gedankenfetzen: "Ich sammle die Fetzen. Wie die Glieder einer Kette will ich sie aneinanderreihen. Ich darf diese Kette nicht verlieren. Der Junge zieht mich weiter. Am Arm, ungeduldig. Ich sehe mich selbst gehen. Meine Seele hoch in der Luft. Ich weiß nicht, ob mein Körper atmet. Das Haus hier. Welches Haus? Spielende Kinder." Diese knappen Worte lesen sich sehr flüssig, es dauert nur drei bis vier Seiten, bis man sich daran gewöhnt hat.

Auffällig in der Beschreibung der Außenwelt Esthers ist auch die Form der Dialoge: nicht wie sonst üblich mit "sagte" oder "erklärte" und anderen Verben des Sprechens. Sondern der Satz wird in Anführungszeichen quasi hingeworfen, und in Klammern steht dahinter der Name der sprechenden Person. Dies verdeutlicht sehr schön, wie Esther Sätze hört und sie im Nachhinein, verlangsamt noch immer durch ihren Schock, einzelnen Personen zuordnet. Die Aussage. Die Person. Alles andere ist unnötiger Ballast für das Mädchen.

Obwohl das Buch durch viel freies Papier (ein Kapitel beginnt auf einer neuen Seite, die Zitate stehen auf einer eigenen Seite), eine angenehme Schriftgroße und die einfachen Sätze sehr schnell gelesen sein könnte, brauchte ich erstaunlich lange für meine Verhältnisse. Der schwer verdauliche Inhalt führt dazu, dass man es nicht überfliegen möchte. Man sollte sich also Zeit und Muse nehmen für dieses Buch.


JUDEN, DRITTES REICH

Immer wieder blitzen Momente des Krieges in die Welt der Kinder. Und auch das Thema Judentum ist stets präsent. So besuchen der Doktor und Esther eine Beerdigung. Auch soll Esther einen Aufsatz schreiben über die Stimme der Steine, wo sie über die Steine auf den Friedhöfen sinniert. Später wird ihr ein Aufsatz über die 36 Gerechten zugeteilt, und im Waisenhaus laufen die Vorbereitungen für das Versöhnungsfest Jom Kippur. In der Gruppe der Kinder ist zudem auch ein Junge, der gerne Witze erzählt von Moschje, dem Rabbi, seiner Religion. Doch abgesehen von solchen Momenten geht es in diesem Buch vordergründig nur um Ester, die Kinder und Korczak. Doch im Hinterkopf des Lesers schwebt das Wissen um das Ende wie ein Damoklesschwert über jeder Seite, über jedem glücklichen Moment.


JANUSZ KORCZAK

Er wurde in WIE EIN STEIN IN MIR wunderbar eingefangen. In vielen herzlichen Situationen erfährt der Leser von seiner Pädagogik. Wie er zuhört, wie er die Kinder behandelt. Das Buch ist kein Lehrstück, kein Sachbuch. Doch zwischen den Zeilen erfährt man sehr viel über das Leben der Kinder im Heim: es gibt eine eigene Zeitung, ja sogar ein Kindergericht. Nicht nur die Erzieher verhängen Strafen über das Fehlverhalten. Sondern die Kinder leben in einer Art eigenem kleinen Staat mit eigener Hirarchie und einem Rechtssystem. Es ist bewegend, mit wieviel Verantwortung und kindlicher Weisheit sie an ihre Aufgabe herangehen.

Neben Esther ist er die einzige Figur, die klar beschrieben ist und von der man mehr erfährt. Ich halte dieses Buch für sehr gut geeignet als Schullektüre: es werden sehr viele Werte vermittelt, es ist höchst pädagogisch und behandelt eine wichtige Zeit unserer Geschichte. Während aber Bücher wie zum Beispiel DER HERR DER FLIEGEN die schlechte Seite der Menschen zeigen und die Verderbtheit von Kindern darlegen, zeigt WIE EIN STEIN IN MIR, wozu Kinder fähig sind, wenn man sie als Erwachsener mit Liebe führt und ihnen hilft, ihre innewohnenden Kräfte zu erkennen und auszuleben.

Über den "alten Doktor" als Person (wie er von den Medien damals genannt wurde und wie er auch einmal im Buch genannt wird) erfährt man in kleinen Brocken viele interessanten Dinge. Etwa über sein Buch KÖNIG MACIUS, seine Tätigkeit als Arzt im Krieg, seine Radioauftritte. Dies ist nicht Hauptbestandteil des Buches, macht interessierte Leser aber sehr neugierig auf mehr von diesem fasziniernden Mann.


FAZIT

Eine bewegende Geschichte, ein ergreifendes Schicksal, ein ungewöhnlicher aber wundervoller Schreibstil: WIE EIN STEIN IN MIR ist eines der seltenen Bücher, das ich uneingeschränkt für alle Leser empfehlen kann.

SaschaSalamander 22.02.2012, 09.34 | (0/0) Kommentare | PL

Triffst Du Buddha, töte ihn

altmann_buddha_1.jpgUnd auch hier, >wie schon gesagt<, habe ich Probleme, einen Erfahrungsbericht zu rezensiere. Aber ein paar Gedanken dazu möchte ich natürlich trotzdem loswerden ;-)

Kürzlich stieß ich durch sein biographisches Buch >DAS SCHEIßLEBEN MEINES VATERS, DAS SCHEIßLEBEN MEINER MUTTER UND MEINE EIGENE SCHEIßJUGEND< (den Titel kann man ja quasi gar nicht übersehen) auf den Autor, der mir bis dahin unbekannt war und wurde neugierig auf weitere Bücher von ihm. Sein Schreibstil sagt mir zu, er ist wunderbar direkt, und er beschönigt nichts, steht zu dem, was er sagt und tut. Diese Ehrlichkeit gefällt mir.

In seinem Buch TRIFFST DU BUDDHA, TÖTE IHN, berichtet er von seiner Reise nach Indien und einem zehntätigen >Retreat<. Einerseits natürlich die zehn Tage als solche, wie er sie verbrachte, welche Regeln er heimlich brach, was ihm leichtfiel und was ihm Probleme bereitete. Und andererseits natürlich von dem Gedanken, die ihm hierzu kommen, seine Einsichten über Spiritualität und Religion.

Er nimmt dem Buddhismus seinen Glanz, beschreibt Meditation aus rein profaner Sicht. Es geht nicht um Erleuchtung, Absagen vom Ich und um Heiligkeit. Sondern um Rückzug, Selbsterkenntnis und Selbst-Bewusstsein.

Was mir an dem Buch überaus gut gefiel war seine knallharte Ehrlichkeit. Und auch, dass er offen Dinge ausspricht, die andere nicht zu sagen wagen. Er spricht sich aus gegen Heiligenkult und Bigotterei. Benennt Autoren, die ihm mit der aufgedrückten Spiritualität gegen den Strich gehen. Spricht sich aus für das eigene Denken und stellt klar, dass der Mensch für sich alleine verantwortlich ist. Keine höhere Macht, die einen von jeglicher Schuld und Verantwortung befreit, kein Schicksal, welches das Leben vorausbestimmt.

Was ich dabei nicht mochte ist allerdings die Überheblichkeit, die ich oft in seinen Worten herauslese. Ich verstehe seine Meinung und teile sie in vielen Dingen. Allerdings vermisse ich manchmal den Respekt vor dem, was anderen Menschen bedeutsam ist. Er knüppelt alles nieder, was nicht in sein Weltbild passt, beschimpft es stellenweise und klingt dabei sehr destruktiv. Wo er auf der einen Seite eine Stärke zeigt, die mich beeindruckt, nutzt er diese auf der anderen Seite nicht zur Hilfe für andere und zur persönlichen Weiterentwicklung sondern ist noch gefangen in Abscheu und Hass auf das, was ihn damals prägte (seine urchristliche Erziehung, siehe der Link zu seiner Biographie). Das tat mir stellenweise weh zu lesen, denn auch wenn ich vieles der einzelnen Religionen und Kulte nicht gutheißen kann, so respektiere ich doch deren Lebensweg, beziehe das schlechte Verhalten einzelner Menschen dieser Gruppe nicht auf die komplette Gruppierung.

Dennoch, ich mag seine direkte Art und seinen Schreibstil, das Buch liest sich sehr flüssig. Auch, wenn ich ihn stellenweise zu aggressiv finde, so tut es doch gut, dieses Buch zu lesen. Seine Erfahrungen sind interessant und informativ. Besonders die Beschreibungen des Landes, wie er es erlebte, berührten mich sehr.

SaschaSalamander 15.02.2012, 15.12 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

Ein mittelschönes Leben

boie_mittelschoen_1.jpg>Ein mittelschönes Leben< beginnt mit dem Abriss einer Biographie: ein Kind mit Hobbies, Heim und Familie, der Heranwachsende, die erste Liebe, die Arbeitsstelle, dann ein Bruch mit seiner Ehefrau, die Arbeitslosigkeit, das Trinken, das Kämpfen, der Sturz bis auf die Straße. Darauf folgen im Wechsel kleine Ergänzungen eines Erzählers und dann verschiedene Fragen von Kindern an drei Mitarbeiter des Hamburger Straßenmagazins >Hinz und Kunzt<.

Kinder stellen Fragen, die Erwachsenen durch den Kopf gehen, die sie aber nicht zu fragen wagen ob ihrer Scham. Dies sind existenzielle Fragen wie etwa "was machst Du, wenn Du krank wirst" oder "weiß Deine Familie, dass Du auf der Straße lebst", aber auch so scheinbar banale und doch erstaunlich wichtige Fragen wie "wo gehst Du denn aufs Klo", "gewöhnt man sich an das Leben auf der Straße" oder "feierst Du Weihnachten". Ich fand die Offenheit der Kinder sehr angenehm. Und ebenso fand ich es mutig und spannend, wie direkt die drei auf die Fragen eingingen. Erwachsene fragen nach Schuld und Verantwortung, daher fand ich es schön, dass man hier die Kinder zu Wort kommen ließ, welche das Augenmerk auf andere Dinge richteten.

Was die Betroffenen aus ihrer jeweiligen Sicht schilderten, fasst der Erzähler noch einmal zusammen, beschreibt beispielsweise die Vernetzung von Einrichtungen wie Straßenambulanz, Obdachlosenunterkünften, Wärmestuben, der Tafel oder dem Straßenmagazin. Sehr schön finde ich auch, dass es drei Gesprächspartner sind, zwei Männer und eine Frau. Dadurch zeigt sich auch, dass es nicht immer klare Antworten gibt und jeder die Situation anders einschätzt. Auf die Frage, ob auch Kinder auf der Straße leben, weichen zwei Antworten sehr stark voneinander ab. Ich denke, das liegt zum einen ander Definition "Kinder" (ich vermute, die Frau dachte eher an Jugendliche, während der Mann eher an Kinder im Alter der Fragesteller vor sich sah), und zum anderen ist Obdachlosigkeit ein schwer zu erfassendes Thema, das sich auch einer exakten Statistik entzieht.

Obdachlosigkeit ist gerade in Großstädten ein wichtiges Thema. Täglich läuft man an den Menschen vorbei, beachtet sie nicht, weicht ihrem Blick aus. Kauft vielleicht mal ein Magazin oder wirft ein paar Cent in den Pappbecher. Aber dann ist das Thema wieder vergessen, dem Alltag gewichen. Beruflich habe ich sehr oft mit den Folgen der Obdachlosigkeit zu tun, und erst letzte Woche habe ich ein Wohnheim aufgesucht, um Kontakte zu knüpfen und mehr über die Hintergründe zu erfahren. Dabei wurde mir bewusst, wie wenig ich trotz der Nähe zu diesem Thema eigentlich darüber weiß, und wie wichtig es vor allem auch ist, nicht die Augen zu verschließen und darauf aufmerksam zu machen.

Produziert für Kinder, ist dieses Hörbuch dennoch auch für Erwachsene geeignet. Denn wie gesagt: Erwachsene wüssten auch gerne, ob ein Obdachloser Weihnachten feiert, aber sie wagen es nicht zu fragen, da andere Dinge wichtiger scheinen. Hier kann man allerhand über das Leben auf der Straße erfahren, aus einem ganz anderen Blickwinkel. Und für Kinder ist die CD sehr gut geeignet, mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen, vielleicht sogar selbst aktiv zu werden. "Was können wir tun" war eine sehr bewegende Frage. Und mancher Erwachsene wird ob der Antworten wohl schlucken und gute Vorsätze fassen. Möge es nicht nur bei den Vorsätzen bleiben!

SaschaSalamander 10.02.2012, 09.02 | (0/0) Kommentare | PL

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